Kapitel Zwei – Weg ins Ungewisse

Die Fahrt mit dem Taxi dauerte mehrere Stunden und Edmond war froh, dass er die Gebühren nicht bezahlen musste. Er fragte sich, woher Noel soviel Geld hatte, wagte aber nicht zu fragen. Er nahm sich vor, später zu fragen, sobald der Vampir wieder gesprächiger und kein neugieriger Taxifahrer in Hörweite wäre.

Es war schon schwer genug dem Taxifahrer eine glaubwürdige Erklärung zu liefern, weshalb einer seiner Fahrgäste vollkommen bewusstlos war. Edmond nutzte sein Fachwissen als Arzt, und warf dem gutgläubigen Herrn gleich mehrere medizinische Fachbegriffe entgegen und erklärte mehr oder minder wahrheitsgemäß, dass er dessen persönlicher ärztlicher Betreuer sei.

Der Taxifahrer war im Grunde nur besorgt, ob der Fahrgast betrunken war, denn einigen unliebsamen Erlebnissen im Umgang mit betrunkenen Gästen zum Dank war er nicht bereit, einen solchen mitzunehmen. Als er jedoch hörte, dass es sich um einen medizinischen Notfall handelte, war er gerne bereit zu helfen und berechnete sogar einen billigeren Tarif für die Fahrt. Zumindest interpretierte er die vielen Fremdwörter, die Edmond ihm nannte, als Notfall, denn er hatte nicht verstanden, was Edmond ihm in Wirklichkeit gesagt hatte.

Als sie gegen Mittag an einer kleinen Hotelpension ankamen, bat Noel Edmond sich um eine passende Übernachtungsgelegenheit zu kümmern, während er selbst die Bezahlung des Taxis übernahm.

Die ältere Dame, die diese Pension mehr als Hobby führte, war untröstlich, als sie Edmond mitteilen musste, dass sie nur noch ein einziges Zimmer frei hatte. Er war sich nicht sicher, ob er das Zimmer nehmen sollte und wollte gerade zurück zum Taxi gehen, um bei Noel nachzufragen, als er hinter sich dessen freundliche Stimme hörte: „Wir nehmen das Zimmer. Es ist nur für ein paar Stunden."

Als Edmond sich zu Noel umdrehte, war er ein wenig überrascht, ihn mit Joshua im Arm an der Rezeption vorzufinden. Es war ein warmer Sommertag und die Mittagssonne stand hoch am Himmel. Der einzige Schutz, den Noel vor der Sonne hatte, war eine dunkle Sonnenbrille, die seine mysteriöse Erscheinung nur noch mehr unterstrich. Offensichtlich hatte Peter ihm die Wahrheit erzählt, als er sagte, dass Vampire durchaus auch am Tage draußen sein konnten, solange sie nicht nackt in der Sonne herumliefen.

Die nette Dame schien etwas irritiert über Noels Aussage und erwiderte mahnend: „Ich vermiete meine Zimmer nur an seriöse Leute."

Edmond schoss sofort die Schamesröte ins Gesicht, als er darüber nachdachte, was die Dame dachte, weshalb sie das Zimmer nur für ein paar Stunden haben wollten. Noel trat zusammen mit Joshua an die schmale Theke und erwiderte mit sanfter Stimme: „Ich kann versichern, dass Dr. Lemon nicht an unseriösen Dingen interessiert ist, meine liebe Katherina."

„Noel! Ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Herrje, es muss Jahre her sein, das wir uns zuletzt gesehen haben. Wie geht es dir?", meinte die Hausherrin überschwänglich.

„Einundzwanzig Jahre sind es her und es geht mir gut, danke. Wie ich sehe, bist du während der letzten Jahre noch hübscher geworden", schmeichelte er ihr charmant.

„Och Gott, Noel. Erzähl einer alten Frau keinen solchen Unsinn", winkte Katherina beschämt ab, während sie den Schlüssel für das letzte freie Zimmer vom Schlüsselbord nahm und an Edmond weiterreichte, da Noel keine Hand frei hatte.

„Habt einen angenehmen Aufenthalt", wünschte sie ihnen, bevor sie sich ihrem Buch zuwandte, um einen Eintrag über die Vergabe des Zimmers zu notieren.

„Danke", meinte Noel noch und ging dann zielsicher die Treppe hinauf zu den Zimmern.

Noch auf der Treppe fragte Edmond leise: „Ich dachte, Vampire haben keinen Kontakt zu den Menschen? Oder ist diese nette Dame etwa auch ein Vampir?"

Noel erklärte mit einem feinen Lächeln: „Unser Familienclan vermeidet jeglichen Kontakt zu den Menschen, doch das bedeutet nicht, dass andere Clans es genauso halten. Es gibt viele Vampire, die ihre Identität an vertrauenswürdige Personen preisgeben, wie Katherina es ist. Für manche Clans stellen solche Menschen eine Art Verbindung zur Außenwelt dar."

„Dann sind wir hier, weil wir einen anderen Clan besuchen wollen?", fragte Edmond neugierig nach und wunderte sich, warum Noel plötzlich im Gang stehen geblieben war. Erst als er den erwartungsvollen Blick Noels erkannte, bemerkte er, dass sie an der Türe ihres Zimmers angekommen waren und der Vampir darauf wartete, dass Edmond die Zimmertüre aufsperrte.

Während sie das kleine Pensionszimmer betraten, antwortete Noel: „Wir sind hier, weil hier die Antares ihren Sitz haben und ich dort um die Erlaubnis für unseren Aufenthalt bitten werde."

„Ah, ich verstehe und die Besitzerin der Pension ist eine Art Mittelsmann zu diesem Clan, nicht wahr?", kombinierte Edmond aufgeregt.

Noel lachte kurz auf, lenkte seine Aufmerksamkeit dann darauf, Joshua behutsam auf dem großen Doppelbett abzulegen, bevor er amüsiert erwiderte: „Die Besitzerin dieser Pension ist lediglich eine nette alte Dame, die über die Existenz von Vampiren bescheid weiß und einen gut funktionierenden Lieferservice für Vampirnahrung anbietet."

„Verstehe. Und ganz offensichtlich ist es nichts ungewöhnliches, wenn ein Vampir einen bewusstlosen Mann in den Armen hält. Oder kennt sie Joshua? Zumindest zeigte sie sich nicht verwundert", überlegte Edmond mehr für sich selbst.

„Katherina hat einfach nur gelernt, ihren vampirischen Gästen keine Fragen zu stellen. Eine sehr lobenswerte Gabe, die auch Ihnen nicht schaden würde", gab Noel einen Wink mit dem Zaunpfahl, den Edmond jedoch schlicht ignorierte.

Neugierig fragte er also weiter: „Wie werden wir Kontakt zu dem andern Clan aufnehmen? Gibt es einen bestimmten Code, den wir aufsagen müssen? Vielleicht ein Passwort?"

„Den Kontakt zu den Antares muss ich alleine aufnehmen. Es ist nicht sicher, ob sie uns den Aufenthalt gestatten werden. Offiziell sind wir noch immer verbündet, doch Zaida hat den Kontakt zu meinem Vater vor Jahren abgebrochen. Und noch andere Gründe sprechen ebenfalls gegen mich. Ich kann nur hoffen, dass Zaida mir wohl gesonnen ist und in Begleitung eines Menschen dort zu erscheinen, würde meine Chancen nur mindern."

Dies enttäuschte den neugierigen Doktor. Zugern wäre er dabei gewesen, wenn Noel bei einem andern Clan um Audienz bat. Er konnte es sich gar nicht vorstellen, wie ein Vampirclan leben würde und begann sich die tollkühnsten Fantasien zusammenzuspinnen. Er stellte sich dunkle Höhlen weit unter der Erde vor, wo alle Vampire gemeinsam in einer mystischen Umgebung lebten, die in der Zeit stehen geblieben war. Bilder von verschiedenen Filmen aus der Vergangenheit kamen ihm in den Sinn. Vielleicht würde er dort wertvolle Schätze sehen können? Alte antike Gemälde und Möbel aus den verschiedensten Epochen. Er stellte es sich unheimlich aufregend vor und konnte gar nicht erwarten, es mit eigenen Augen zu sehen.

Noel erkannte an dem verträumten Blick des Doktors, dass dieser tief in Gedanken war, weshalb er nach Joshua sah, ob dieser endlich wieder ein Lebenszeichen von sich gab. Doch dessen Augen waren noch immer leer und glanzlos, als ob er tot wäre. Nur sein Instinkt sagte ihm, dass noch immer ein Rest von Leben in Joshuas Körper wohnte.

„Ist es wirklich wahr, dass er zu Ihnen gesprochen hat?", fragte Noel ungläubig, während er sanft über Joshuas Stirn strich.

Edmond kehrte mit seinen Gedanken zurück in die Gegenwart und antwortete Noel: „Ja, es ist wahr. Es waren nur wenige Worte und Altairs Ankunft hat uns dann leider gestört, doch er hatte eindeutig mit mir gesprochen."

„Können Sie die Behandlung wiederholen?", fragte Noel hoffnungsvoll.

„Nun ja, theoretisch könnte ich schon, doch ich bin mir nicht sicher, ob es ihm in seinem Zustand gut tun wird", gab Edmond zu bedenken.

„Bitte versuchen Sie es. Ich kann Ihnen sagen, wenn sein Zustand schlechter wird", bat Noel mit bettelnden Augen.

„Ich kann es versuchen. Doch es wird bestimmt nicht so gut funktionieren, wie vergangene Nacht, da nur Sie allein als Spender zur Verfügung stehen. Deshalb bezweifle ich stark, ob es noch mal zu so einem schnellen Erfolg kommen wird", erklärte Edmond, während er die benötigten Sachen aus seiner Tasche kramte.

„Geben Sie ihm soviel Blut von mir, wie er braucht", forderte Noel ohne Bedenken über sein eigenes Wohlergehen. Er wartete seit über zwanzig Jahren sehnsüchtig darauf, dass sein Loraib wieder mit ihm sprechen würde, weshalb er all sein Blut geben wollte, falls es notwendig war.

Edmond bemerkte erneut, wie wichtig es Noel war, dass Joshua wieder gesund wurde, weshalb er in Noel keinen mysteriösen Vampir sah, sondern einen besorgten Mann, der um seinen geliebten Gefährten bangte.

Schließlich begann er mit der Behandlung, ließ erneut das vergiftete Blut aus Joshuas Körper laufen, während er ihm gleichzeitig das gesunde Blut seines Sirus’, welcher am Kopfende des Bettes gelehnt über Joshuas Zustand wachte, über eine direkte Verbindung in die Adern lenkte.

Schon nach den ersten Tropfen begannen sich Joshuas Augen zu verändern. Sein Blick wurde klarer und endlich erkannte Noel wieder ganz deutlich, dass sein Loraib bei Bewusstsein war.

Als Joshua anfing seine Umgebung wahrzunehmen, war er zunächst verwundert über den fremden Ort, an dem er sich befand, doch die Nähe seines Sirus beruhigte ihn. Aufgrund seines hilflosen Zustandes hatte er zwangsläufig gelernt vollkommen auf Noel zu vertrauen. Noch mehr als es für einen Loraib ohnehin normal war.

Er spürte die Nadeln in seinen beiden Armen und diesmal freute er sich über die Behandlung. Er brauchte nicht zu wissen, was in den letzten Stunden passiert war. Er konnte an dem traurigen Blick seines Sirus erkennen, dass dieser nun endlich die Wahrheit über Altair erfahren hatte. Erleichtert ließ er erneut die Dunkelheit über sein Bewusstsein gewinnen und fiel in einen tiefen heilsamen Schlaf.

Edmond hatte kein gutes Gefühl dabei, die Behandlung schon so bald wieder durchzuführen, doch er vertraute auf Noels Wissen über Vampire. Dennoch hielt er ein wachsames Auge über die Beiden und war jederzeit bereit, die Behandlung abzubrechen.

Nach einer Weile wollte Edmond die Nadel von Noels Arm abnehmen, um die Behandlung zu beenden, doch Noel hielt ihn mit einem festen Griff an seiner Hand auf und bat: „Nein, bitte! Machen Sie weiter."

„Sie verlieren zu viel Blut", warnte Edmond besorgt, doch Noel wollte dies nicht hören. Er schob Edmond einfach zur Seite und verhinderte, dass dieser die künstliche Blutleitung zu seinem Loraib unterbrechen konnte.

Edmond beobachtete besorgt, wie Noel allmählich müde wurde. Die Blutmenge, die seinen Körper bereits verlassen hatte, ging weit über die Menge hinaus, die ein gesunder Mensch ohne Schäden ertragen konnte. Er versuchte auf Noel einzureden und wollte den Schlauch erneut entfernen, doch dieser hörte nicht auf ihn und ließ nicht zu, dass Edmond auch nur in die Nähe des Schlauches fassen konnte.

Erst als Noel kurz davor war sein Bewusstsein zu verlieren, schaffte Edmond es, die Behandlung abzubrechen. Noel gab ein drohendes Geräusch von sich, das wie ein animalisches Knurren klang, doch Edmond ignorierte es einfach und trennte die Blutleitung zwischen den beiden Vampiren.

Noel wollte sich von seinem Sitzplatz erheben, doch der hohe Blutverlust löste starke Schwindelgefühle in ihm aus und er drohte zusammenzubrechen. Edmond, der noch neben ihm stand, konnte gerade noch rechtzeitig nach ihm greifen und ihn stützen.

„Sie müssen sich ausruhen. Legen Sie sich hin", mahnte Edmond und lenkte Noel ohne großen Widerstand zurück auf das Bett. Er war überrascht, wie schwach der Vampir plötzlich zu sein schien.

„Ich brauche Nahrung", stöhnte Noel kraftlos.

Edmond stutzte verwirrt, da er keine Ahnung hatte, wie er an Nahrung für einen Vampir herankommen sollte. Das einzige Blut, das ihm zur Verfügung stand, war das in seinen eigenen Adern. Edmond hoffte stark, dass Noel nicht von ihm erwartete, dass er ihn von sich trinken lassen sollte!

„Katherina", fügte Noel schwach hinzu, als er Edmonds Hilflosigkeit erkannte.

„Oh, aber natürlich. Ich kümmere mich sofort darum!", rief Edmond erleichtert aus und eilte sofort nach unten zur Rezeption, um bei der Dame des Hauses nach Blut zu fragen.

Katherina saß mit ihrem Strickzeug in ihrem Sessel, wo sie immer saß, um für ihre Gäste da zu sein, falls man sie brauchen würde. Sie lächelte Edmond freundlich entgegen und grüßte: „Dr. Lemon, was kann ich für Sie tun?"

Ein wenig unsicher begann Edmond zu erklären: „Ähm… Noel, er.. nun ja, Sie wissen ja, was er ist, nicht wahr? Ist das nicht unfassbar? Ich fürchte, er braucht… nun ja, Sie wissen schon… ich denke, er hat… nennt man es eigentlich Hunger, oder Durst? Er trinkt es ja, also wird es wohl Durst heißen. Wie wohl Vampire dazu sagen? Es ist ja ihre einzige Nahrung, nicht wahr? Ist es dann vielleicht doch Hunger?"

Über Edmonds Geplapper amüsiert, erhob sich Katherina und fragte leicht lachend: „Sie wissen wohl noch nicht lange, dass es Vampire gibt?"

„Erst seit vergangener Nacht", gab Edmond zu, während er Katherina unaufgefordert in die Küche folgte.

„Das erklärt einiges", meinte Katherina mehr zu sich selbst, während sie den Deckel ihrer Gefriertruhe öffnete und nach ein paar versteckten Plastikbeuteln suchte.

„Wie hungrig ist er?", fragte sie nach.

„Sie nennen es also hungrig, ja? Die Vampire, meine ich. Nennen Sie es selbst „hungrig", wenn sie hungrig sind?", fragte Edmond fasziniert nach, ohne ihre Frage zu beantworten.

„Wie viel braucht er?", hakte Katherina energischer nach.

„Oh, verzeihen Sie. Ich denke, er braucht sehr viel", antwortete er endlich, worauf Katherina ein paar zusätzliche Beutel aus der Truhe kramte.

Während Katherina die Beutel aufriss und das gefrorene Blut in eine seltsame Maschine fallen ließ, die aussah, wie eine überdimensionale Cappuccinomaschine, plapperte Edmond weiter: „Es ist so, Joshua ist krank. Nun ja, er wurde vergiftet und mit Hilfe von Noels Blut führten wir gerade eine Art Entgiftung durch, damit das Gift aus Joshuas Adern gespült wird. Sie wissen, wer Joshua ist, nicht wahr? Er ist Noels Loraib. Ist das nicht faszinierend? Was halten Sie von der ganzen Sache, dass es Vampire wirklich gibt? Ich kann es noch immer nicht glauben, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte. Es ist absolut unglaublich!"

Katherina achtete kaum auf Edmond, sondern konzentrierte sich mehr darauf, für Noel das Blut trinkbar zuzubereiten. Die Maschine, mit der sie das Blut aufbereitete, hatte sie von den Antares bekommen. Sie wusste nicht, wie diese Maschine genau funktionierte. Sie wusste nur, dass dadurch das Blut etwa auf die Körpertemperatur eines Menschen erwärmt wurde, ohne dass es zu stocken begann. Jedoch hielt die Konsistenz des Blutes nur für kurze Zeit an, weshalb das Blut baldmöglichst getrunken werden musste, sonst wäre es nicht mehr genießbar.

Abgefüllt in zwei silberne Thermobehälter übergab sie schließlich das aufbereitete Blut an Edmond und betonte: „Ich verdanke den Vampiren sehr viel und die einzige Gegenleistung, die sie jemals von mir abverlangt hatten, war, über ihre Existenz zu schweigen. Bringen Sie es Noel sofort, solange es noch genießbar ist."

Damit ließ sie Edmond einfach in der Küche stehen, ohne auch nur eine einzige seiner zahlreichen Fragen beantwortet zu haben. Im ersten Moment war er ratlos, wie er sich auf das Benehmen der Frau verhalten sollte, entschied dann aber doch, ihrem Rat zu folgen und Noel das Blut sofort zu bringen.

Als er oben im Zimmer ankam, stellte er fest, dass Noel eingeschlafen war. Vorsichtig stupste er ihn an der Schulter an, um ihn zu wecken. Noels erster Impuls war es, in Angriffstellung aufzuspringen, doch sein geschwächter Zustand hätte es nicht zugelassen, weshalb er weiter den Schlafenden mimte, bis er sich sicher war, dass außer Edmond und Joshua niemand sonst noch mit im Raum war.

„Noel, wachen Sie auf!", versuchte Edmond es vehementer, nachdem Noel keine Anzeichen des Erwachens von sich gab.

Plötzlich sprangen Noels Augen auf und blickten Edmond scharf entgegen, worauf Edmond erschrocken zurückwich. Hastig zeigte er Noel die beiden Blutbehälter und zwang sich ein nervöses Lächeln ab. Mühevoll richtete sich der Vampir auf und nahm den ersten Behälter dankbar entgegen. Sofort öffnete er den Schraubverschluss und trank die Leben spendende Flüssigkeit in großen Schlücken. Kaum als er den ersten Behälter geleert hatte, nahm er sich den zweiten aus Edmonds Händen und trank auch diesen rasch leer.

Er fühlte, wie sein Körper wieder zu neuer Kraft erwachte. Es war leichtsinnig gewesen, Joshua soviel Blut zu geben, doch er wollte, dass sein Loraib schnell wieder gesund werden würde. Den leeren Thermobehälter rasch neben den ersten auf den Nachttisch abstellend, wandte er sich zurück zu seinem Geliebten und überprüfte dessen Zustand.

Seine Instinkte sagten ihm, dass Joshua in einen tiefen Schlaf gefallen war, doch es schien ein erholsamer Schlaf zu sein. Anders und besser, als in den letzen Tagen. Dies erleichterte Noel ein wenig.

Gestärkt durch seine Mahlzeit, erhob er sich rasch von dem Bett und informierte Edmond über seine nächsten Schritte: „Ich werde Sie jetzt für eine Weile alleinlassen. Wenn ich Glück habe, kann ich Zaida um eine Audienz bitten. Warten Sie bitte solange hier. Ich bin so schnell ich kann zurück."

„Und was soll ich tun, wenn Ihnen etwas passiert? Woher weiß ich, wenn Ihnen etwas passiert? Was soll ich dann mit Joshua machen?", fragte Edmond aufgeregt.

Noel zog sich seinen knielangen schwarzen Mantel an und erwiderte trocken: „Für den Fall, dass etwas schief gehen sollte und mir etwas passiert, werden Sie es erfahren, wenn andere Vampire kommen, um Sie und Joshua zu töten. In diesem Falle brauchen Sie überhaupt nichts zu tun, da Sie nicht mehr dazu in der Lage sein werden."

„Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Ich werde nicht einfach hier herumsitzen und darauf warten, dass jemand kommt, um mich zu töten!", rief Edmond erschrocken.

„Niemand wird kommen, um Sie zu töten. Vertrauen Sie mir. Bleiben Sie einfach hier und leisten Sie Joshua Gesellschaft, bis ich zurückkomme. Falls Sie irgendetwas brauchen sollten, lassen Sie es sich von Katherina bringen und es auf die Zimmerrechnung schreiben", meinte Noel mit beruhigender Stimme.

„Erst sagen Sie, dass jemand kommen könnte, um uns zu töten, und dann erwarten Sie von mir, dass ich Ihnen vertraue. Wie bitte soll ich Ihnen vertrauen können?", protestierte Edmond ein wenig aus dem Häuschen.

„Sie haben gefragt, was passieren könnte, wenn etwas schief geht und ich habe es Ihnen gesagt. Seien Sie nicht so neugierig, dann bin ich nicht gezwungen, Ihnen jedes mögliche Szenario zu beschreiben. Die Antares sind offizielle Verbündete der Altairs. Zaida wird mich nicht töten lassen, es sei denn, ich würde sie angreifen, was ich nicht tun werde. Also beruhigen Sie sich!", forderte Noel ungeduldig.

Dies gab Edmond ein wenig zu denken, weshalb er sichtlich sprachlos war. Noel wollte dem Menschen eigentlich keine Angst einjagen, doch er war froh, dass dieser endlich den Mund hielt. Seine endlose Fragerei nervte ihn sehr, weshalb er rasch das Zimmer verließ, bevor Edmond erneut damit beginnen konnte. Er hatte im Moment größere Probleme, um die er sich kümmern musste, als die Neugierde eines Menschen zu stillen.

 

*****

 

Noel war ein wenig nervös, als er, nach erteilter Erlaubnis, das Privatgemach von Zaida betrat. Er kannte die Vampirin schon viele Jahre und hatte früher ein sehr gutes Verhältnis zu ihr, doch er wusste nicht, wie sie nun zueinander stehen würden, nachdem es eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und seinem Vater gegeben hatte.

Er wusste, dass Zaida eine besondere Fähigkeit besaß und die Gedanken der Menschen lesen konnte. Auch die der Vampire konnte sie lesen, sofern es kein sehr alter und erfahrener Vampir war, welcher ihr den Zugang zu seinen Gedanken verwehrte. Um ihr zu zeigen, dass er ohne böse Absichten hier war, offenbarte er seinen Geist für sie, während er sich respektvoll vor ihr mit einem Knie zu Boden begab.

Doch Zaida machte sich gar nicht die Mühe, seine Gedanken zu lesen. Sie würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, sondern sagte gleich vorweg: „Wenn du hier bist, weil dein Vater dich geschickt hat, kannst du gleich zu ihm zurückkehren und ihm sagen, dass ich nicht interessiert bin."

Ohne aufzustehen oder den Blick zu ihr zu erheben, antwortete er: „Mein Vater weiß nichts von meiner Anwesenheit. Er denkt, ich sei tot. Die Bitte, die ich vorzutragen habe, betrifft allein mich und meinen Nachkommen."

Dies weckte das Interesse der Vampirin, weshalb sie sich zu ihm wandte und vor ihn trat, um ihn sich genauer zu betrachten.

„Erhebe dich und erkläre mir genauer, weshalb du deinem Vater deinen eigenen Tod vortäuschst, wo du doch so lebendig vor mir stehst", forderte sie ihn auf, während sie ihn genau musterte und sich einen Weg zu der Wahrheit in seinen Gedanken bahnte.

Noel tat wie ihm befohlen und schilderte das Geschehene in kurzen Worten: „Mein Vater hat mich hintergangen. Er vergiftete meinen Loraib und setzte ihn über zwanzig Jahre lang schrecklichen Qualen aus. Meinen eigenen Tod vorzutäuschen, war der einzige Weg, meinen Loraib in Sicherheit zu bringen und ihn gesund zu pflegen."

Zaida hörte kaum die Worte, die er sprach. Stattdessen sog sie alles Geschehene der vergangenen Tage über seinen offenen Geist in sich auf. Sie erkannte Wahrheit und Lüge, wenn ein noch relativ junger Vampir, wie Noel, versuchte sie zu täuschen. Deshalb wusste sie, dass er die Wahrheit vor ihr offenbarte. Ihr reichte es, wenn Noel von den Geschehnissen sprach, um alles wie in einem Film aus seiner Erinnerung mitzuerleben.

Noel wusste, dass sie ihn gerade auf diese Weise lesen würde. Sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man sich davor schützen konnte, doch da es nichts gab, was er vor der Vampirin zu verbergen hatte, ließ er es offen zu, dass sie ihn las.

„Was hast du vor, wenn dein Loraib gesund ist?", fragte sie, während sie sich auf eine moderne Couch in der Ecke ihres Gemachs setzte und ihn mit einem Handzeichen einlud, sich ebenfalls zu setzen. Seine Gedanken gaben ihr bisher keine Antwort auf diese Frage.

Noel folgte ihrer Einladung und erwiderte wahrheitsgemäß: „Ich weiß es nicht."

„Du hast einen Menschen bei dir", stellte sie beiläufig fest, wobei sie nur wollte, dass er weiter von den letzten Geschehnissen sprechen würde, damit sie ihre Antworten in seinem Geist erkennen konnte.

„Ja. Er ist Arzt. Durch seine Behandlung kann Joshua wieder gesund werden", erklärte Noel seine Beweggründe, wegen denen er das Risiko auf sich genommen hatte, einen Menschen mitzunehmen.

„Meine Leute können Joshua gesund pflegen. Ich denke, ich weiß, womit Altair deinen Loraib vergiftet hat. Es gibt nicht viel, das einem Vampir schaden könnte und ich bin mir sicher, dass Altair nicht über mehr Wissen verfügt als ich", meinte Zaida mit einem feinen Lächeln.

„Edmond hat sein Leben riskiert und sich Altair entgegengestellt, um Joshua zu helfen", erklärte Noel weiter.

„Ein törichtes Verhalten für einen Menschen. Hätte er gewusst, in welche Gefahr er sich damit begibt, hätte er es nicht getan", stellte Zaida abwertend fest.

„Ich versprach ihm meinen Schutz", betonte Noel und stellte sich damit auf Edmonds Seite.

„Ein noch törichteres Verhalten für einen Vampir. Die Zeiten, in denen Vampire den Menschen Schutz bieten konnten, sind vorbei. Du solltest das wissen. Du gefährdest damit unserer Existenz", warnte sie ihn streng.

„Ich gefährdete uns damit nicht mehr, als ihr es mit euren Menschen tut, denen ihr vertraut", konterte er furchtlos.

„Du vertraust ihm also?", fragte Zaida und erwartete damit eine klare Antwort.

„Ja, das tue ich", war die einzig mögliche Antwort, die Noel geben konnte, auch wenn er tief im inneren Zweifel deswegen in sich trug. Zaida erkannte diese Zweifel ohne Schwierigkeiten, doch sie erkannte auch noch etwas anderes. Sie sah die Verzweiflung und den Schmerz des Verrats in Noel und wusste, dass er ohne Unterstützung verloren war.

„Du hast deine beiden Söhne bei ihm gelassen?", fragte Zaida, ohne weiter auf den Menschen einzugehen, obgleich sie die Antwort auf diese Frage schon kannte. Doch sie wollte Noels Gefühle dazu erkunden, weshalb sie ihn dazu brachte, darüber zu sprechen.

„Ja", antwortete Noel schlicht. Er machte sich sehr große Sorgen um Djoser und Peter. Laut Gesetz waren sie nach seinem Tod nicht länger Centra und Centradu, sondern verloren ihren Status an die Nachkommen von Noels Bruder. Ihr neuer Status glich nun dem eines Kalkadors, eines einfachen Kriegers. Im Normalfall wäre dies nicht weiter schlimm, doch Noel fürchtete den Zorn seines Vaters. Er wollte gar nicht daran denken, was dieser seinen Söhnen antun würde.

Als Zaida Noels Sorgen erkannte, meinte sie: „Du kannst hier bei uns bleiben und dich und deinen Loraib gesund pflegen. Ich sehe deutlich, wie geschwächt du bist. Ruhe dich aus und entscheide dann über deine weiteren Pläne."

„Was ist mit Edmond?", fragte Noel sofort nach.

„Dein Mensch ist ebenso willkommen wie du und dein Loraib", fügte sie freundlich hinzu.

„Ich danke dir", erwiderte Noel erleichtert.

„Deine Sorge war unbegründet. Mein Streit bezog sich allein gegen deinen Vater und nicht gegen deinen Clan, sonst hätte ich unser Bündnis schon längst aufgehoben", erklärte Zaida unaufgefordert, aufgrund seiner Gedanken, die sie zuvor gelesen hatte.

„Ich bin froh, dass du es so siehst. Ich danke für deine Gastfreundschaft. Sei gewiss, dass ich mich dir erkenntlich zeige, wann immer ich die Gelegenheit dazu erhalten werde. Ich bin der deine", erklärte er mit einem respektvollen Blick zu Boden und demonstrierte ihr damit seine Untergebenheit als Dank für ihre Hilfe.

„Sei der meine", erwiderte sie freundlich, womit sie ihrerseits ihre zugesicherte Unterstützung erneut unterstrich und seine untergeordnete Haltung begrüßend akzeptierte.

 

*****

 

Langsam fing Joshua an, sich seiner Umgebung wieder bewusst zu werden. Bereits viele Male hatte er dieses Zurückkommen aus einer tiefen Bewusstlosigkeit erlebt und immer waren entweder sein Sirus, oder seine Brüder bei ihm gewesen, doch diesmal spürte er sie nicht. Niemand aus seiner Familie schien in der Nähe zu sein, weshalb er es mit der Angst bekam. Rein aus der Reaktion heraus blickte er sich suchend im Raum um, wobei er überrascht feststellte, dass sein Körper nicht so kraftlos war wie sonst, denn zumindest sein Kopf bewegte sich überraschend gut.

Er versuchte sich mehr zu bewegen und seine Umgebung genauer zu erkunden, doch der Rest seines Körpers versagte ihm weiter seine Dienste, und das Zimmer, in dem er lag, war ihm fremd. Der schwache Geruch seines Sirus lag noch in der Luft, was ihn schließlich beruhigte, doch er fragte sich, warum er alleine war.

Eine Türe öffnete sich plötzlich, worauf Joshua sofort den Schlafenden mimte und versuchte anhand seiner Sinne zu erfassen, wer eingetreten war. Kurz kam ihm der erschreckende Gedanke, dass Altair sie vielleicht gefunden hatte, bis er erkannte, dass der Hereinkommende kein Vampir, sondern ein Mensch war. Trotz seiner geschwächten Sinne konnte er Edmond bereits identifizieren, noch bevor dieser in seinem Blickfeld erschien.

Einige Fragen schossen ihm sofort durch den Kopf. Vor allem wollte er wissen, wo sein Sirus war, doch er brachte nicht mehr als ein leises Seufzen heraus. An seinem Blick war deutlich zu erkennen, wie durcheinander er war und als Edmond ihn schließlich direkt ansah, begann er sofort loszuplappern: „Sie sind wach, nicht wahr? Bestimmt fragen Sie sich, wo Noel ist. Sie waren ja die ganze Zeit über bewusstlos. Die Fahrt hierher haben Sie ja gar nicht mitbekommen. Sie wissen gar nichts von alle dem, was passiert ist, nicht wahr?"

Joshua verdrehte genervt die Augen. Es war unglaublich, wie dieser Mann es schaffte ihm so viele seiner offensichtlichen Fragen offen zulegen, ohne auch nur eine einzige davon zu beantworten. Er sehnte sich seinen Sirus herbei, damit dieser ihn von diesem nervigen Menschen befreien würde.

Nachdem Edmond keine positive Reaktion auf sein Geplapper erhielt, wurde ihm schnell bewusst, dass Joshua noch immer nicht sprechen konnte, weshalb er endlich begann Joshuas Wissenslücken über die letzten Geschehnisse zu schließen. Gerade als er von der zweiten Behandlung berichten wollte, in der Noel eindeutig zu viel seines Blutes gespendet hatte, öffnete sich die Türe und besagter trat mit einem warmen Lächeln herein.

Sogleich trat Noel zu seinem Loraib ans Bett, und war glücklich, diesen bei vollem Bewusstsein vorzufinden. Ihm fiel die deutliche Besserung an Joshuas Zustand sofort auf. Darüber erfreut, beugte er sich zu seinem Loraib herab und schenkte diesem einen zaghaften Kuss auf die Lippen. Als Joshua den Kuss träge erwiderte und sich ihre Zungen dabei berührten, entwich Noel ein sehnsüchtiges Stöhnen. Es war Jahre her, dass er zuletzt eine Erwiderung seines Kusses von seinem Loraib spüren konnte. Glücklich strahlend trennte er sich von Joshuas Lippen und blickte mit feuchten Augen auf ihn herab.

„Zaida gewährt uns Zuflucht. Wir werden so lange bei ihr bleiben, bis du wieder ganz gesund bist", unterrichtete Noel seinen Loraib von seinen Plänen.

Als Joshua dies hörte, war er sehr erleichtert und mühte sich deshalb nicht weiter darum, seinem Körper Gehorsam zu befehlen. Sehr bald schon würde er seine Kraft zurückerlangen und könnte seinem Sirus all die Dinge berichten, die er so lange Zeit in sich getragen hatte. Er musste nun nichts weiter tun, als darauf zu warten, bis er sich wieder erholen würde.

„Hier, du sollst das trinken. Zaida hat es mir gegeben. Es wird dir deine Kraft zurückgeben", erklärte sein Sirus, während er ihm ein kleine Petflasche an die Lippen hielt, in der eine dunkle Flüssigkeit abgefüllt war. Gehorsam schluckte Joshua die ihm dargebotene Medizin.

Neugierig beobachtete Edmond, wie Noel seinem Loraib von der Flüssigkeit zu trinken gab, und fragte interessiert nach: „Was ist das?"

„Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen", erwiderte Noel tonlos, ohne Edmonds fragenden Blick zu erwidern, da seine ganze Aufmerksamkeit auf Joshua ruhte.

Kaum als dieser ein paar große Schlucke getrunken hatte, begann er sich plötzlich laut stöhnend aufzubäumen. Stechender Schmerz zog sich durch jede seiner Adern, als ob flüssige Lava sich durch seinen Körper drängen würde. Rasch stellte Noel die Flasche zur Seite und half seinem Loraib, indem er ihn in einer schützenden Umarmung festhielt.

„Sie sagte, es wäre sehr schmerzhaft. Du musst stark sein", meinte Noel, während er ihm beruhigend über den Rücken strich.

Verwirrt und entsetzt fragte Edmond nach: „Mein Gott, warum setzen Sie Joshua diesen Schmerzen aus? Die Bluttransfusionen wirkten doch sehr gut. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er wieder ganz gesund gewesen wäre und das ganz ohne Schmerzen!"

„Zeit ist etwas, das ich nicht habe. Ich will meine Söhne nicht zu lange schutzlos Altairs Willen aussetzen", erwiderte er, während er den vor Schmerz zuckenden Körper seines Loraibs in den Armen hielt. Um Edmond weiter zu beruhigen, fügte er noch erklärend hinzu: „Außerdem empfinden wir Vampire Schmerzen bis zu einem gewissen Grad als angenehm."

„Huh? Wollen Sie mir damit etwa erklären, dass Joshua dies gerade genießt?", fragte Edmond zweifelnd nach, da es ihm nicht so vorkam, als ob dieser es genießen würde.

„Das nicht. Aber er kann besser damit umgehen als ein Mensch", antwortete ihm Noel ehrlich.

Mit jeder neuen Schmerzwelle, die durch Joshuas Glieder jagte, spürte er, wie neues Leben in ihn zurückkehrte. Er begrüßte jede davon mit Freude. Über zwanzig Jahre lang war er unfähig sich zu bewegen. Wenn er durch diese Schmerzen schneller gesund werden sollte, dann wollte er sie gerne ertragen.

Es dauerte schier endlose Minuten, in denen Joshua sich krümmte und schmerzerfüllte Stöhnlaute von sich gab. Nur langsam gewann er immer mehr an Kraft. Je mehr er spüren konnte, umso mehr Kraft kehrte in seine Glieder zurück. In lauten Schreien rief er schließlich seine Pein heraus. Tränen liefen über Noels Wangen, als er Joshuas Stimme nach so langer Zeit wieder hörte. Überglücklich, dass die Medizin wie erhofft wirkte, hielt er seinen Loraib weiter fest und spendete ihm soviel Hilfe, wie es ihm möglich war.

Als Joshua merkte wie die Schmerzen langsam nachließen, überprüfte er seine Körperkraft, wobei er freudestrahlend feststellte, dass er sich wieder bewegen konnte. Zwar war er noch immer geschwächt, doch zumindest gehorchte sein Körper seinen Befehlen. Als erstes erwiderte er Noels Umarmung mit so viel Kraft, wie es ihm möglich war und sprach zu ihm: „Mein Sirus."

Dies waren die wundervollsten Worte, die Noel seit Jahren gehört hatte, denn sie kamen von seinem Loraib. In diesem Moment war er sich sicher, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, indem er sich gegen Altair gestellt hatte.

 

*****

 

Mit Faszination blickte sich Edmond auf dem kleinen Stadtfriedhof um, durch den Noel ihn führte. Es war finstere Nacht. Nur ein paar wenige Grablichter leuchtete ihnen den Weg. Edmond sah all die schaurigen Gruselgeschichten über Vampire bestätigt und erwartete fast, dass aus einem der gepflegten Gräber ein Untoter kriechen würde. Umso enttäuschter war er deshalb, als sie schließlich eine hübsche kleine Kapelle betraten. Es stimmte also, dass Vampire keine Schwierigkeiten hatten, geheiligte Stätten zu betreten und sich auch nicht vor Kreuzen fürchteten.

Joshua genoss es unendlich, sich wieder auf seinen eigenen Beinen fortzubewegen, auch wenn es sehr mühsame Schritte waren und er nur mit Hilfe seines Sirus’ gehen konnte. Auch Noel war selig, seinen Loraib in so gutem Zustand erleben zu dürfen. Jeden Augenblick fürchtete er, dass Joshua wieder in die bewegungslose Starre zurückfallen würde, weshalb er sich über jeden noch so kleinen Schritt freute, den dieser aus eigener Kraft schaffte.

Die kleine Kapelle war in warmes Licht gehüllt, welches von den zahlreichen Kerzenlichtern strahlte, die hier aufgestellt waren. Mehrere kleine Engelsfiguren und die heilige Mutter Maria zierten die Decke in einem kunstvollen Gemälde. Auch die Wände waren liebevoll bemalt und zeigten jeweils zwei weitere Schutzheilige.

Hier führte Noel seinen Loraib an die Wand, wo sich dieser anlehnte, damit Noel über einen verborgenen Mechanismus den Durchgang zu dem Versteck der Antares offen legen konnte. Dazu musste er nur an den kleinen Altar treten, wo eine kleine Marienfigur in der Mitte platziert war. Diese Figur ergriff er mit beiden Händen und drehte sie einmal um ihre eigene Achse herum. Ein tiefes Grollen und seltsame Klickgeräusche zeugten davon, dass etwas tief im Inneren der Kapelle vor sich ging und dann erkannte Edmond auch, welches alte Geheimnis sich dort verbarg. Der massive Marmor, der die Frontplatte des Altars bildete, verschwand wie durch Geisterhand im Boden und legte dadurch einen Durchgang frei.

Edmond lugte interessiert durch den geheimen Eingang, doch ehe er näher treten konnte, hielt Noel ihn auf und mahnte mit ernster Miene: „Sie werden vielleicht ein paar Dinge sehen oder hören, die Ihnen ungewöhnlich erscheinen, doch ich bitte Sie inständig, sich jegliche Fragen zu verkneifen! Vermeiden Sie es hochrangigen Vampiren in die Augen zu starren, dies könnte als negatives Zeichen verstanden werden und uns in große Schwierigkeiten bringen. Am besten Sie bleiben immer dicht bei mir und verhalten sich ruhig."

Dem Doktor wurde es richtig mulmig zumute, als er die mahnenden Worte hörte. Doch zugleich stieg auch die Neugierde in ihm, welche Art von ungewöhnlichen Dingen er dort erleben würde.

Es war Noel nicht entgangen, wie neugierig der Doktor auf den Antares-Clan war, weshalb er sehr hoffte, dass es zu keinen unliebsamen Zwischenfällen kommen würde. Im Moment war er auf die Gastfreundschaft der Antares angewiesen, denn ganz allein ohne Schutz unter den Menschen zu leben, konnte für einen Vampir sehr schnell zu einem lebensbedrohlichen Risiko werden. Er konnte nur hoffen, dass er das richtige tat.

Sie mussten sich bücken, um durch den offen gelegten Eingang direkt zu einer Treppe zu gelangen, welche steil nach unten führte. Geduldig half Noel seinem Loraib schließlich die Treppe zu bezwingen, während Edmond ihnen mit unsicheren Schritten folgte. Es war so dunkel, dass der Doktor kaum die Hand vor seinen Augen erkennen konnte. Geschweige denn die Stufen unter seinen Füßen. Nur ein schwacher Lichtschein von den Kerzen aus der Kapelle traf auf den Rücken der Vampire, wodurch Edmond seinen Weg erahnen konnte. Als sich dann jedoch die Marmorplatte des Altars wieder nach oben schob, war er in vollkommene Dunkelheit gehüllt und blieb erschrocken stehen. Den Vampiren schien die Dunkelheit nicht zu stören, denn sie gingen unbekümmert weiter.

„Worauf warten Sie?", hörte er Noels Stimme ein paar Schritte weiter, worauf er ein wenig ruppig antwortete: „Ich warte auf Erleuchtung! Ich kann nichts sehen!"

Entschuldigend meinte Noel: „Oh, verzeihen Sie. Ich habe vergessen, dass Menschen nicht so gut sehen können. Warten Sie einen Moment, ich sorge für etwas mehr Licht."

Unruhig wartete Edmond darauf, dass ein Licht ihm den Weg leuchten würde. Er fühlte sich nicht besonders wohl, so vollkommen blind an einem ihm fremden Ort.

Endlich erblickte er weiter unten am Ende der Treppe ein schwaches Licht und gleich darauf erkannte er Noel, welcher eine alte Öllampe vor sich hertrug. Noel kam ihm ein paar Stufen entgegen, bis er genug Licht hatte, um ihm selbständig zu folgen.

Unten an der letzten Stufe angekommen, folgten sie einem schmalen Gang, der gerade groß genug war, damit ein ausgewachsener Mann darin aufrecht gehen konnte. Am Ende des Ganges trafen sie auf eine massive Holztüre, die einen Spalt breit offen stand. Als sie durch diese hindurch gingen, erblickte Edmond Joshua zusammen mit einem weiteren Mann, von dem er vermutete, dass dieser ebenfalls ein Vampir war und welcher ihm misstrauisch entgegenblickte.

Noel gab die Lampe an diesen Mann zurück und half dann seinem Loraib, weiter zu gehen, welcher wartend an der Wand gelehnt hatte. Erst als sie ein paar Schritte weitergingen, fiel Edmond auf, wie sauber es hier unten war. Im Gegensatz zu dem anderen Gang waren hier vereinzelte elektrische Lampen an der Decke, die den Weg mit schwachem Licht erleuchteten. Dieser Gang war viel breiter und die Wände waren makellos weiß. Der Boden war aus dunklen Fliesen und wirkte sehr edel. Nicht der geringste Schmutz war zu erkennen.

Ihre Schritte hallten durch den langen Gang, bis sie erneut an einer Tür ankamen, welche nicht so alt wirkte, wie die vorherige Holztüre, sondern eher einen sehr modernen Eindruck machte, als wäre es eine massive Sicherheitstüre. Dort klopfte Noel, wobei Edmond genau horchte, ob es sich dabei um ein geheimes Klopfzeichen handeln würde, doch es schien einfach nur ein gewöhnliches Klopfen zu sein.

Als sich dann die Tür in das unterirdische Vampirreich öffnete, staunte der Doktor sehr. Ein hell erleuchteter und riesiger Raum erstreckte sich vor ihm. Mehrere Personen waren hier versammelt, die alle wie vollkommen normale Menschen aussahen. Nichts an ihnen wirkte so, wie man sich einen Vampir vorstellen würde. Ihre Kleidungen waren genauso gewöhnlich, wie ihre Frisuren oder die Art, wie sie sich verhielten.

Auch die Einrichtung wirkte nicht als sei sie aus einer vorangegangenen Epoche, so wie Edmond es sich vorgestellt hatte, sondern es wirkte alles ganz normal. Es schien eine Art großer Gemeinschaftsraum zu sein, in dem mehrere gemütliche Sitzgelegenheiten in Form von bequemen Couchen, normalen Tischen und Stühlen im ganzen Raum verteilt waren. Auch moderne HiFi-Geräte konnte Edmond erkennen. In einer Ecke stand ein teurer Fernseher mit großem Bildschirm, in dem gerade ein Actionfilm lief und welcher mit großem Interesse von einigen der Vampire verfolgt wurde.

In einer anderen Ecke stand eine Tischtennisplatte, an der vier Vampire einander anfochten. Daneben, an manchen Tischen, spielten Vampire verschiedene Brettspiele, während andere einfach nur ein Buch lasen.

Edmond erkannte viele junge Männer und auch einige hübsche Frauen. Sie alle benahmen sich wie gewöhnliche Menschen, weshalb Edmond sich fragte, ob sie wirklich bei einem Vampirclan waren, oder ob dies vielleicht einfach nur ein Ort war, an dem junge Leute sich trafen, um ihre Freizeit miteinander zu verbringen. In einer Spielecke zankten sich sogar gerade zwei Männer über einen falschen Zug, als wären sie ganz normale Menschen.

„Noel, schön, dass du hier bist. Ich grüße dich und auch deine Begleiter", sprach eine äußerst attraktive Frau, die Noel direkt entgegenkam. Edmond staunte mit offenem Munde über deren Schönheit. Sie wirkte definitiv nicht menschlich, sondern eher wie ein verzaubertes Geschöpf des Himmels. Noel verbeugte sich tief vor dieser Himmelserscheinung und so tat es auch Joshua, da dieser von Noel gestützt wurde. Edmond kam es sogar so vor, als ob Joshua sich noch tiefer verbeugen würde als Noel, doch dies konnte auch an seinem geschwächten Zustand gelegen haben. Als die Vampirin ihm einen unlesbaren Blick zuwarf, beeilte sich Edmond, Noels Beispiel zu folgen und verbeugte sich ebenfalls vor ihr.

„Wie ich sehe, hat die Medizin gewirkt?", erkundigte sich die Frau, worauf die beiden Vampire sich wieder erhoben und Joshua als Angesprochener antwortete: „Sie hat sehr gut gewirkt. Ich danke dir, Zaida von den Antares."

„Sei der meine, Joshua von Noel", erwiderte sie freundlich und ersetzte absichtlich den Clannamen mit dem Namen seines Sirus’.

„Der bin ich", erwiderte Joshua mit einer demütigen Kopfneigung und zeigte damit deutlich, wie es auch sein Sirus getan hatte, dass er sich ihrem Status als Clanführerin unterordnete.

„So, und das ist also der Mensch, dem ihr alles zu verdanken habt?", fragte Zaida nach, während sie sich zu Edmond wandte und ihn näher betrachtete, damit sie seine Gedanken erkunden konnte.

„Das ist er", erwiderte Noel nur knapp, da er wusste, dass Zaida alle gewünschten Antworten direkt aus seinem Geist erlangen würde.

Edmond wusste über ihre besondere Gabe nicht bescheid. Er fühlte sich seltsam bedroht durch die schöne Vampirin, und zugleich schmeichelte es ihm, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Er war unsicher, ob er etwas sagen sollte oder nicht und entschied, dass es gewiss besser wäre zu schweigen, anstatt die hübsche Engelserscheinung mit seinem Geplapper zu vergraulen. Er vertraute darauf, dass Noel es ihm sagen würde, falls er sich falsch benahm.

Ein amüsiertes Schmunzeln erschien auf Zaidas Lippen, als sie seine Gedanken erfassen konnte. „Kluge Entscheidung", sagte sie leise, bevor sie sich von ihm abwandte und ein paar Schritte weiter ging, worauf Edmond das seltsame Gefühl bekam, sie hätte seine Gedanken kommentiert, doch dies konnte unmöglich wahr sein, dachte er sich. Noel folgte ihr unaufgefordert. Ebenso wie Joshua, weshalb auch Edmond ihnen nacheilte.

„Mateo stellt euch sein Gemach zur Verfügung, solange ihr Unterschlupf benötigt. Im Anschluss daran befindet sich ein Zimmer, das die Ansprüche eures Menschen erfüllt. Es ist leider das einzige Zimmer dieser Art, weshalb ihr es auch noch mit unserem Parley teilen müsst. Ich hoffe, dies führt zu keinen Problemen", erklärte Zaida mir fragender Miene und erwartete ganz offensichtlich eine Antwort darauf.

Noel antwortete ihr deshalb sogleich: „Ich werde darauf achten, dass es zu keinen Problemen kommt. Wenn du mir jedoch die Frage erlaubst, seit wann besitzen die Antares ein Parley? Ich dachte, die Art von Rang würde in eurem Clan nicht mehr existieren?"

„Sie ist kein richtiges Parley. Sie lebt nur hier bei uns. Ich werde sie dir später vorstellen. Ruht euch erst einmal aus. Dein Loraib braucht Ruhe und du brauchst jemanden, der deine Wunden versorgt. Gestatte meinen Moras, dass sie dich versorgen", erwiderte sie mit einem strengen Blick, während sie den besagten Moras zuwinkte und ließ damit keine Widerrede zu, weshalb Noel nur nickend zustimmte, bevor er das ihnen zur Verfügung gestellte Schlafzimmer betrat und Joshua zum Bett führte.

Währenddessen begann es in Edmond bereits zu brodeln. Er wollte zu gerne wissen, was ein Parley war, wer oder was Moras waren und von welchen Wunden die Vampirin gesprochen hatte? Ihm war nicht aufgefallen, dass Noel irgendwo verletzt wäre. Umso erstaunter war er deshalb, als zwei weibliche Vampire erschienen, Noel vorsichtig dabei halfen seinen Mantel und sein Hemd auszuziehen und er darunter die blutigen Striemen einer Peitsche erkannte.

Irgendjemand musste Noel aufs grausamste ausgepeitscht haben und Edmond brauchte nicht lange, um zu schlussfolgern, dass dies sein Sirus gewesen sein musste. Einem normalen Menschen wäre es unmöglich gewesen, eine derartige Verletzung zu verbergen, doch dann erinnerte sich Edmond an Noels Rückkehr in seine Praxis, wo ihm aufgefallen war, dass die Schritte des Vampirs anfangs sehr mühsam und vorsichtig waren. Mit Sicherheit hatte dieser die letzten Stunden über sehr starke Schmerzen, die er sich jedoch nicht anmerken ließ.

Zu Edmonds großer Überraschung hörten die beiden Frauen nicht auf, Noel aus seinen Kleidern zu helfen, bis er schließlich vollkommen nackt war. Obwohl er im Laufe seiner Arztkarriere schon viele nackte Menschen gesehen hatte, begann eine leichte Schamesröte in seinem Gesicht zu erscheinen. Der Anblick zweier so hübscher junger Frauen, wie sie Noel von seinen Kleider befreiten, erweckte einige unkeusche Gedanken in ihm.

Der auf dem Bett liegende Joshua ertappte den Doktor dabei und grinste ihm amüsiert entgegen, worauf Edmond sich beschämt wegdrehte, um seinen Blick auf etwas anderes zu richten. Dabei konnte er gerade noch sehen, wie eine junge Frau neugierig zur Tür hereingelugt hatte, und sich, als er sich zu selbiger drehte, rasch davonstahl. Er wunderte sich sehr über das Verhalten dieser Frau, weshalb er aus dem Zimmer gehen und nach dem Mädchen schauen wollte, doch Zaida hielt ihn auf und sagte: „Ich hoffe, es ist Ihnen nicht allzu unangenehm im selben Raum mit Noel und Joshua zu schlafen, doch Sie können sicher verstehen, dass ich Sie nirgendwo anders schlafen lassen kann."

Ihre Stimme war so seidig und schnitt sich auf seltsame Weise in sein Bewusstsein, sodass er zu nichts anderem fähig war, als zustimmend zu nicken.

„Es freut mich, dass Sie mir zustimmen. Meine Leute werden Ihnen ein Bett aufstellen", fügte sie noch hinzu und bereits während sie dies sagte, kamen ein paar Männer herein, die rasch ein provisorisches Feldbett aufstellten und Kissen und Bettzeug darauf ablegten.

Nachdem Edmonds Schlafstätte aufgestellt war, verließen die Männer das Zimmer wieder und ohne auch nur ein Wort zu sagen, folgte ihnen auch Zaida nach draußen. Edmond blickte ihnen irritiert nach. Scheinbar mangelte es allen Vampiren an Manieren, was das Verabschieden betraf.

Ein Zischlaut lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf das Bett, wo die beiden Frauen dabei waren Noels Wunden zu reinigen. Dieser lag inzwischen mit dem Bauch auf dem Bett, damit die Frauen ihn besser verarzten konnten. Die Wasserschale, in die sie ihre Tücher eintauchten, war bereits blutrot gefärbt. Erst jetzt konnte Edmond das ganze Ausmaß der Wunden erkennen. Die Spuren der Peitsche reichten bis hinab zu den Waden. Noels gesamte Kehrseite war mit blutverkrusteten Striemen übersäht.

Nicht nur Edmond, auch Joshua war von dem Ausmaß der Verletzungen betroffen. Er hatte sich ein kleines Stück aufgerichtet und strich Noel ein paar seiner dunklen Strähnen zurecht. Tränen standen in Joshuas Augen, während er kaum hörbar sagte: „Bitte verzeih mir, dass du meinetwegen so leiden musstest."

Noels Blick wurde streng, als er seine Hand nach oben streckte, um Joshuas Gesicht zu erreichen. Er griff ihm dort in den Nacken und zog ihn näher an sich heran. Mahnend sprach er auf seinen Loraib ein: „Nicht du bist derjenige, der sich entschuldigen muss. Du musstest weit mehr ertragen als ich. Hätte ich eher bemerkt, was für ein falsches Spiel mein Sirus mit mir treibt, hätte ich dich davor bewahren können. Verzeih mir, dass ich so lange meine Augen vor der Wahrheit verschlossen hielt."

Dies war das erste richtige Gespräch, das die beiden Vampire führten, seitdem Joshua wieder sprechen konnte. Es war ein besonderer Moment, der sogar Edmond bewegte. Er konnte die tiefen Gefühle zwischen den beiden Vampiren ganz deutlich erfassen. Er konnte es sich kaum vorstellen, wie grausam es für die beiden gewesen sein musste, zwanzig Jahre lang so nah beieinander zu sein und doch unerreichbar voneinander getrennt.

Es überraschte Edmond nicht, als die beiden Vampire schließlich zu einem vorsichtigen und zaghaften Kuss zusammentrafen. Sie schienen noch immer nicht glauben zu können, dass die vermeintliche Krankheit nun für immer besiegt war und sie wieder vereint waren. Es war, als hätten sie Angst davor sich einander zu nähern. Als könnte alles nur ein Traum sein.

Auch die beiden Frauen wurden sich des bedeutenden Momentes bewusst und verließen deshalb das Zimmer so lautlos wie möglich. Nur noch Edmond stand mit ungutem Gefühl im Raum und starrte gebannt auf die beiden Männer, die sich vor ihm im Bett umarmten und küssten.

Die Beiden schienen sich seiner Anwesenheit nicht mehr bewusst zu sein, oder sie scherten sich nicht darum, dass er ihnen zusah, denn ihre Küsse wurden leidenschaftlicher und ihre Körper schmiegten sich zu eindeutigen Bewegungen aneinander. Dies wurde Edmond dann doch zu viel, weshalb er sich verzweifelt nach einem möglichen Ort zur Flucht umsah.

Zaidas Andeutung hatte ihm deutlich klar gemacht, dass er sich nicht außerhalb des Zimmers herumtreiben sollte. Zumindest war es das, was sein Verstand wahrgenommen hatte, weshalb er das Zimmer nicht zu verlassen wagte. Er entdeckte eine weitere Türe, die, wie er sogleich feststellte, zu einem angrenzenden Badezimmer führte.

Seinen Blick möglichst vom Bett weggerichtet, bemühte er sich rasch das Feldbett samt Bettzeug ins Badezimmer zu zerren. Es war ein großräumig eingerichtetes Zimmer mit Dusche, Badewanne, einer Toilette und zwei nebeneinander montierten Waschbecken. Es wirkte hier nicht gerade sehr wohnlich, aber zumindest gab es keine störenden Stöhngeräusche zweier Vampire, die ihre neue Vereintheit auf ziemlich groteske Weise feierten.

Er kämpfte schon seit längerer Zeit mit einigen Stunden Schlafdefizit, weshalb er es sich sogleich auf seinem Schlafplatz gemütlich machte. Nun, zumindest so gemütlich, wie man es sich auf einem Feldbett machen kann. Erstaunlicherweise dauerte es nicht lange, bis er tief und fest schlief.

 

*****

 

Etwas kitzelte Edmond unter der Nase, weshalb er langsam aus seinem Schlaf erwachte. Als er dann schließlich die Augen öffnete, erschrak er furchtbar, da direkt vor seinem Gesicht die junge Frau war, die er bei seiner Ankunft in der Tür gesehen hatte. Sie trug dunkelbraune schulterlange Haare und hatte warme hellbraune Augen, die ihn neugierig musterten.

Unberührt von seinem deutlichen Schock, fragte sie interessiert: „Du bist ein Mensch, nicht wahr?"

Noch immer starr vor Schreck, blickte er der jungen Frau entgegen und brachte kein einziges Wort heraus. Er fragte sich unweigerlich, ob es wirklich im Interesse des Clans war, als Zaida ihn ermahnt hatte im Zimmer zu bleiben, oder ob nicht vielleicht sein Leben in Gefahr war? Vielleicht war dieser Clan den Menschen gegenüber nicht so freundlich gesinnt wie Noel. Oder vielleicht war alles nur eine große Lüge und Vampire waren doch Blut saugende Monster?

„Ist es wahr, dass Noel sich gegen seinen Sirus aufgelehnt hat? Was denkst du, wird er seinen Clan verlassen und einen eigenen gründen? Kennst du Noels Centra? Ist er hübsch?", fragte sie weiter, wie ein neugieriges Kind und wie ein solches kam sie ihm auch vor, weshalb er seine Angst langsam verlor.

„Wer sind Sie?", fragte Edmond seinerseits, ohne auf ihre Fragen zu antworten.

Enttäuscht richtete sich das Mädchen auf und ließ die Schultern hängen. „Sie hat dir also verboten mit mir zu reden, nicht wahr?"

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Wer soll mir verboten haben mit Ihnen zu sprechen?", fragte er nach, während er sich von seinem Schlafplatz aufrichtete.

Die junge Frau fand es offensichtlich sehr amüsant, wie er sie mit „Sie" ansprach. Vorwitzig grinste sie ihm entgegen und fragte erneut: „Kennst du Noels Centra?"

„Ich habe ihn einmal gesehen. Zu behaupten, dass ich ihn kenne, wäre übertrieben", erklärte er sachlich.

Wie gebannt klebte sie fortan an seinen Worten und fragte weiter: „Ist er hübsch?"

„Nun ja, aus dem Gesichtspunkt einer Frau, könnte man durchaus sagen, dass er hübsch ist."

„Glaubst du, Noel wendet sich von Altair ab?", bohrte sie weiter, als ob ihr Leben an diesen Informationen hängen würde.

„Nachdem was ich weiß, glaube ich kaum, dass er ohne weiteres zu ihm zurückkehren wird", zweifelte Edmond sehr stark daran und fügte fragend hinzu: „Warum wollen Sie das alles wissen und wer sind Sie überhaupt?"

Diese Fragen schienen die junge Frau nervös zu machen und sie erweckte auch nicht den Anschein, als wolle sie ihm diese beantworten. Doch ehe er weiter nachfragen konnte, öffnete sich eine zweite Türe zu dem Badezimmer und ein groß gewachsener Mann mit einem grimmigen Blick sah zu ihnen herein. Er machte einen ziemlich bedrohlichen Eindruck auf Edmond, weshalb dieser unbewusst mit seinem Oberkörper zurückwich.

„Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht. Was tust du hier?", fragte der Mann die junge Frau.

Hastig eilte diese zu dem Mann heran und sprang ihm förmlich in die Arme. Übertrieben unschuldig sagte sie zu ihm: „Mateo, du weißt doch, dass es gewisse Dinge gibt, die ein Mensch gelegentlich tun muss."

Dann war diese Frau also ein Mensch, staunte Edmond sehr und sah den Beiden fasziniert nach.

„Ich mag es nicht, wenn du mit diesem Kerl sprichst", meinte Mateo brummig, während er das Mädchen mit einer Leichtigkeit mit nur einem Arm hochhob und zärtlich an sich drückte, als wäre sie seine Tochter. Bevor er kehrtmachte, um sie hinauszutragen, warf er Edmond noch einen finsteren Blick zu, der dem Doktor durch Mark und Bein fuhr.

„Er war sehr nett zu mir", verteidigte ihn die junge Frau, doch Mateo schien dies nicht zu beeindrucken, als er die Tür hinter ihnen zuwarf.

Dies reichte dem Doktor nun. Er wollte endlich ein paar Antworten auf seine Fragen haben, weshalb er entschlossen aufsprang und nach nebenan zu Noel und Joshua ging.

Sein erster Blick richtete sich sofort auf das Bett, weshalb er ein wenig überrascht war, als er dieses leer vorfand.

„Hallo Edmond, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?", hörte er Noels Stimme, und als er sich umwandte, sah er diesen in einem gemütlichen Sessel neben einer großen Bücherwand sitzen. Neben ihm, in einem weiteren Sessel, saß Joshua, der einen deutlich besseren Eindruck machte als sonst. Nichts an ihm ließ vermuten, dass er viele Jahre lang gelähmt war. Er wirkte stattlich und schön und lächelte Edmond freundlich entgegen.

„Ich ähm…", suchte Edmond nach den richtigen Worten, doch angesichts der vielen Fragen, die in ihm brannten, wusste er nicht, was er auf Noels Kommentar erwidern sollte und fing stattdessen an: „Wussten Sie, dass eine Frau hier lebt? Eine menschliche Frau, meine ich. Ich bin ihr gerade im Badezimmer begegnet."

„Zaida hatte erwähnt, dass ein Parley bei ihnen lebt", erwiderte Noel, als ob dies die Antwort auf Edmonds Frage wäre, doch es warf nur weitere Fragen auf.

„Was ist ein Parley?"

Noel dachte eine Weile darüber nach, ob er diese Frage beantworten sollte, und meinte schließlich: „Es ist ein Mensch, der unter Vampiren lebt. Mehr brauchen Sie dazu nicht wissen."

„Leben diese Menschen freiwillig unter den Vampiren?", hakte Edmond bestimmend nach.

„Manchmal", meinte Noel darauf nur und sah Edmond mit einem scharfen Blick entgegen, der unmissverständlich sagte, dass er nicht weiter darauf eingehen wollte.

Edmond ließ sich von diesem Blick jedoch nicht beeindrucken und erwiderte empört: „Wollen Sie damit etwa sagen, dass sich Vampire einfach irgendwelche Menschen schnappen und sie wie Haustiere halten?"

Joshua unterdrückte ein überraschtes Lachen und vertuschte es mit einem vorgetäuschten Husten, worauf Noel ihm einen strengen Blick zuwarf. Sein Loraib war nur erstaunt gewesen, wie nah Edmond mit seiner Aussage der Wahrheit gekommen war, doch Noel fand dies alles andere als lustig.

Zum Doktor gerichtet sagte Noel freundlich: „Glauben Sie mir, es ist besser für Sie, wenn Sie nicht wissen, was genau ein Parley ist. Doch ich kann Ihnen versichern, dass es der Frau an nichts fehlen wird."

„Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen sie doch gar nicht!", erwiderte Edmond schroff.

„Ich kenne Zaida", sagte Noel schlicht.

Edmond wollte nachhaken, dass dies noch lange keine Antwort auf seine Frage sei, doch Joshua schaltete sich ein und sagte: „Selbst wenn es so wäre, dass die Frau gegen ihren Willen festgehalten wird, gäbe es nichts, was Sie dagegen tun können. Warum warten Sie nicht erstmal ab, bis Zaida sie uns wie angekündigt vorstellt und bilden dann Ihre Meinung? Ich bin sicher, mein Sirus kann Zaida gut genug einschätzen, wenn er ihr dahingehend vertraut, also sollten Sie dies auch tun."

Der Doktor sah ein, dass Joshua Recht hatte. Selbst wenn die Frau unfreiwillig hier war, konnte er vermutlich nichts dagegen tun. Er könnte sich nicht einmal gegen einen dieser starken Vampire stellen und schon gewiss nicht gegen einen ganzen Clan. Und als er genauer darüber nachdachte, war ihm die Frau auch nicht so vorgekommen, als wäre sie unglücklich darüber, hier zu sein. Sie wirkte viel mehr genauso neugierig wie er selbst.

Und genau diese Neugierde ließ ihn sich an die beiden weiblichen Vampire erinnern, die Zaida mit einem bestimmten Namen bezeichnet hatte, weshalb er sofort fragte: „Was sind eigentlich Moras?"

Noel schüttelte nur ungläubig den Kopf, stand auf und meinte brummig „Wo ist Peter, wenn man ihn braucht?", während er ohne zu antworten das Zimmer verließ.

Joshua folgte seinem Beispiel, doch er blieb bei Edmond stehen und meinte zu ihm: „Moras sind Vampire, die den Ranghöheren dienen. Die Rangfolge spielt eine sehr große Rolle in unserem Leben. Nicht jeder Vampir hat dieselben Rechte und Pflichten, aber das hat Peter Ihnen ja bereits erklärt."

„Ich verstehe. Moras sind also eure Sklaven und ihr seid ihre Herren", kommentierte Edmond verachtend. Je mehr er über die Vampire erfuhr, desto weniger hielt er von ihnen.

Diese Aussage kränkte Joshua. Vielleicht hatte Altair doch Recht, den Menschen zu misstrauen. Dennoch machte er sich die Mühe und berichtigte Edmonds Vermutung: „Ihr Menschen seid es, die sich Sklaven halten und diese als wertlos erachten. Innerhalb eines Vampirclans zählt jedes Mitglied. Egal welchen Rang es besitzt. Sie sollten nicht zu voreilig über uns urteilen."

Mit diesen Worten ließ Joshua den Doktor einfach stehen und folgte seinem Sirus. Edmond kam sich plötzlich sehr dumm vor. Möglicherweise hatte er tatsächlich zu vorschnell geurteilt? Er sollte vielleicht aufhören, die Vampire ständig mit den Fantasiegestalten aus Film- und Romangeschichten zu vergleichen, sondern sie erst einmal vorbehaltlos kennen lernen. Er nahm sich für die Zukunft fest vor, keine so voreiligen Rückschlüsse mehr zu ziehen, bevor er nicht alle Fakten kannte.

Als er den beiden Vampiren schließlich folgte, war er überrascht, wie leer der große Raum plötzlich war, in dem sich in der Nacht zuvor noch so viele Vampire aufgehalten hatten. Nur Zaida, Noel, Joshua und drei weitere Vampire saßen hier auf den Couchen verteilt, von denen einer Mateo war, den er zuvor im Badezimmer gesehen hatte. Doch die junge Frau war nicht hier, weshalb er sich unweigerlich fragte, wo diese war.

Die beiden unbekannten Vampire hatten eine ähnliche Statur wie Mateo. Scheinbar hatte Zaida eine Vorliebe für große und muskulöse Männer. Jeder der drei Männer wirkte wie ein preisgekrönter Bodybuilder, wobei die eher zierliche Gestalt der Vampirin in deren Mitte noch graziler wirkte. Edmond vermutete, dass es sich hierbei um Zaidas direkte Nachkommen handelte, wobei einer von ihnen ihr Loraib zu sein schien, da sie halb an dessen Brust angelehnt saß und ihre Hand auf seinem Knie ruhte.

„Es gibt nicht viele Möglichkeiten, die dir bleiben. Du musst dich entscheiden, bevor Altair erfährt, dass du noch am Leben bist", sagte Zaida, wodurch Edmond sofort erkannte worüber die Vampire sich gerade unterhielten.

„Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Sobald Joshua wieder ganz gesund ist, werde ich zurückgehen und meinen Sirus um Verzeihung bitten", erwiderte Noel traurig.

„Sei kein Narr! Altair wird dich bis aufs Blut dafür büßen lassen und dein Loraib wird einen raschen Tod finden. Ich dachte, du hättest endlich begriffen was für ein Spiel Altair mit dir getrieben hat? Wenn du jetzt nicht handelst, wirst du alles verlieren und dein gesamter Clan ist dem Untergang geweiht", mischte sich Mateo engagiert ein.

„Mateo hat Recht. Du musst dich gegen deinen Sirus stellen", stimmte Zaida ihrem Centra zu.

„Mich gegen ihn zu stellen, würde bedeuten, den Clan zu verlassen und vielleicht einen eignen zu gründen, doch das kann ich nicht tun. Ihr alle wisst genau, wie viel mir der Clan bedeutet. Ich kann meinen Leuten nicht einfach den Rücken zuwenden und sie Altairs Wut überlassen."

Zaida hatte genug von Noels offensichtlicher Blindheit. Es war höchste Zeit, dass ihm jemand die Augen öffnete, weshalb sie energisch einlenkte: „Und warum bedeutet dir der Clan mehr als er Altair bedeutet? Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Welcher Sirus gibt seinen gerade frisch verwandelten Nachkommen an einen anderen Vampir ab, so wie er dich damals zu mir gebracht hatte, damit du alles Notwendige von mir lernst, obwohl du seine Nähe gebraucht hättest. Und wie war es mit Jacob, deinem Bruder? Wer stand ihm in seinen ersten Nächten bei? Warum denkst du hat Altair einen Trick angewandt, um deinen Loraib loszuwerden? Er hätte jederzeit das Recht dazu gehabt Joshua zu töten, doch er zog es vor, ihn langsam zu vergiften, damit du nicht bemerkst, dass er dahinter steckt und du ihm treu ergeben bleibst. Warum wohl glaubst du, dass er deine Treue so dringend nötig hat? Zu wem gingen deine Leute, wenn sie Sorgen hatten? Gewiss nicht zu Altair. Nicht einmal dein Bruder ging zu ihm, sondern zu dir, wenn er einen Rat brauchte. Für ihn bist du mehr sein Sirus, als Altair es jemals sein könnte. Schon seit du ein junger Vampir bist, führst du diesen Clan an, und du weißt es nicht einmal. Es wird endlich Zeit, dass du deinen rechtmäßigen Platz einnimmst."

Daraufhin war Noel erstmal sprachlos, bevor er nach einer kurzen Weile fragte: „Meinen rechtmäßigen Platz?"

„Jawohl. Deinen rechtmäßigen Platz als oberster Sirus", bestätigte Zaida.

„Erst wenn Altair stirbt, kann ich seinen Platz einnehmen", erwiderte Noel, als wäre dies unmöglich.

„So ist es", stimmte Zaida mit viel sagendem Blick zu.

Noel brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Zaida genau dies von ihm erwartete, nämlich seinen eigenen Sirus zu töten.

Fassungslos sprang er von seinem Platz auf und rief: „Ihr könnt unmöglich von mir erwarten, dass ich meinen eigenen Sirus töte!"

„Es ist die einzige Möglichkeit!", drängte Zaida.

„Nein! Ich kann nicht. Ich kann das nicht tun", betonte er erneut, während er sich von der Gruppe abwandte, und ein paar Schritte weiter stehen blieb, um seine Fassung wiederzuerlangen.

Zaida erhob sich und näherte sich ihm vorsichtig. Sanft redete sie auf ihn ein: „Wenn ich es tun könnte, hätte ich es schon vor Jahren getan. Doch wenn ich ihn getötet hätte, wäre ein Krieg zwischen unseren beiden Clans ausgebrochen. Wenn du ihn tötest, hast du nur deinen Leuten gegenüber Rechenschaft abzulegen und glaub mir, keiner von ihnen wird dir dein Handeln verübeln. Sie alle werden dich als ihren neuen Führer anerkennen. Denk daran, was ich dir gesagt habe und denk daran, was er Joshua angetan hat."

Eine bedrückende Stille breitete sich aus. Noel dachte lange über Zaidas Worte nach, bis er kaum hörbar meinte: „Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht. Er ist viel stärker als ich."

Zaida erkannte damit, dass doch noch eine Chance bestand, ihn zu überzeugen, und sprach weiter: „Ich werde dir zeigen wie du ihn besiegen kannst. Mit meiner Hilfe kannst du es schaffen. Meine Leute und ich werden dafür sorgen, dass sich eure Kalkadore nicht einmischen, somit wirst du ihm in einem fairen Kampf gegenüberstehen und du wirst ihn besiegen."

Noel drehte sich zu ihr um und blickte ihr Hilfe suchend entgegen. Er wünschte sich, sie würde ihm einen anderen Weg weisen, als den, den sie von ihm erwartete. Ihre Anwesenheit und ihr Glaube an seine Kraft waren sehr tröstlich für ihn, wodurch ihm zum ersten Mal richtig bewusst wurde, um wie viel mehr sie ein Sirus für ihn war, als Altair.

Sie war es gewesen, die ihm alles beigebracht hatte, das er wissen musste. Von ihr hatte er mehr Wissen erhalten, als jemals von seinem Sirus und das obwohl er nur seine ersten beiden Zöglingsjahre bei ihr gewesen war. Dies war auch der Grund weshalb er oftmals anderer Meinung war als sein Sirus und weshalb er einige schmerzhafte Straflektionen ertragen musste. Viele Male hatte er sich gewünscht sie wäre sein Sirus gewesen und nicht Altair.

Zaida erkannte, wie er mit sich selbst rang und nutzte dies, um weiter auf ihn einzureden: „Denk an deine beiden Söhne, Peter und Djoser. Ich will nicht wissen, was Atlair ihnen in diesem Moment antut."

Erschrocken blickte Noel auf und fragte: „Was meinst du damit?"

„Du weißt genau, was ich damit meine. Ich spreche nur deine eigenen Gedanken aus", erklärte sie wahrheitsgemäß.

Tatsächlich machte er sich sehr große Sorgen um seine beiden Söhne. Wütend war Altair unberechenbar. Und sein plötzliches Ableben hatte seinen Sirus ganz bestimmt sehr wütend gemacht. Gewiss war Altair voller Zorn, weil sein Centra es gewagt hatte, sich ohne Erlaubnis selbst zu töten.

Er konnte nur hoffen, dass Djoser von seiner Wut verschont blieb, da dieser in Altairs Augen ein würdiger Nachfolger gewesen war, doch Peter würde gewiss weniger Glück haben. Viel zu oft nannte Altair ihn einen nutzlosen Taugenichts und einen Schandfleck für den Clan. Noels größte Angst war es, dass Peter vielleicht bereits tot sein könnte. Auch wenn sein Centradu manchmal etwas nervig war, so liebte er ihn ebenso, wie seine beiden anderen Nachkommen.

Als Zaida einen Blick in seine Gedanken wagte, sah sie, dass er trotz seiner Sorge um seine Nachkommen noch immer vor der Entscheidung schwankte und nach einem Ausweg suchte, wo keiner war. Da sie ihn sehr gut kannte und einschätzen konnte, wusste sie, dass er nur noch einen kleinen Ruck brauchte, um den Mut für die richtige Entscheidung aufzubringen. Deshalb meinte sie abschließend: „Wenn du dich dazu entschließt, deinen Weg zu gehen, um deinen Platz einzunehmen, werde ich an deiner Seite sein und dir dabei helfen. Falls du zu ihm zurückkehren willst, um vor ihm zu kriechen, wie du es die letzten Jahre getan hast, dann kannst du es ebenso gut gleich tun. Joshua geht es gut genug, um durch Altairs Hand zu sterben. Ich werde euch nicht länger Unterschlupf gewähren. In zwei Stunden ist Sonnenuntergang. Bis dahin erwarte ich deine Entscheidung."

Schmerz zeichnete sich auf Noels Gesicht ab. Ihre abweisende Haltung verletzte ihn sehr, doch er verstand ihren Standpunkt. Im Moment war er kein offizielles Mitglied des Altair-Clans und ihm zu helfen war gleichbedeutend mit einem Verrat gegen Altair. Würde sein Sirus davon erfahren, wäre dies eine willkommene Einladung für einen offenen Krieg. Und genau darauf wartete dieser schon so lange.

„Ich werde dir meine Entscheidung mitteilen", antwortete er mit einer respektvollen Kopfneigung und zog sich in sein Schlafzimmer zurück.

Als Noel nicht mehr anwesend war, konnte Edmond sich nicht mehr länger zurückhalten. All dieses Gerede darüber, jemanden zu töten, hatte ihn sehr aufgewühlt, weshalb er sarkastisch einwarf: „Lösen Vampire all ihre Probleme, indem sie einfach ihresgleichen töten?"

Sofort hatte er die Aufmerksamkeit aller anwesenden Vampire auf sich ruhen. Joshua fürchtete, dass dies Ärger verursachen würde und hoffte sehr darauf, dass Edmond seine Zunge zügelte.

Majestätisch schritt Zaida an ihn heran und musterte ihn genauer. Sie bewunderte seine Courage, doch seine Einstellung gefiel ihr nicht. Dennoch freundlich, sagte sie zu ihm: „Technisch gesehen sind wir bereits tot. Wir sterben in dem Moment, in dem unser Sirus uns das menschliche Leben nimmt und werden wiedergeboren als Vampire."

Für sie war das Thema damit abgeschlossen. Diese Erklärung sollte für den Menschen ausreichend sein, sich nicht länger um das Leben eines Vampirs zu scheren, da dessen menschliches Leben längst Vergangenheit war. Dementsprechend wollte sie sich abwenden und sich in ihre Gemächer zurückziehen, ebenso wie ihre Nachkommen, doch für Edmond war dieses Thema noch nicht abgeschlossen und er fragte weiter: „Wiedergeboren? Also doch nicht tot."

„Edmond", versuchte Joshua einzulenken, um diesen zur Vernunft zu bringen, bevor dieser etwas sagen würde, was die Vampirin ernsthaft verärgern würde, doch bevor er mehr zu Edmond sagen konnte, hob Zaida ihre Hand und gebot ihm still zu sein.

Näher an Edmond herantretend, sprach sie dann mit einem fragenden Blick und einer seidigen Stimme, die dem Doktor durch und durch ging. „Ist es nicht besser, wenn ein Vampir stirbt, bevor er einen ganzen Clan ins Verderben stürzt? Altair hungert schon seit Jahren nach Krieg. Er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, mich öffentlich zu beleidigen und zu provozieren. Ein offener Krieg zwischen zwei Vampirclans würde auch menschliche Opfer nach sich ziehen. Was soll ich Ihrer Meinung nach also tun? Soll ich weiter warten, bis Altair bekommt wonach er giert, oder soll ich versuchen ihm Einhalt zu bieten?"

Damit verstummten Edmonds Bedenken gänzlich. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass die Konsequenzen aus diesen Entscheidungen so weitreichend waren, dass es auch Menschen das Leben kosten konnte. Dies wollte er ganz gewiss nicht. Erneut hatte er sich zu sehr von seinen Impulsen leiten lassen, bevor er die genauen Fakten kannte, weshalb er sich nun für seine anklagenden Worte schämte. Verlegen sagte er deshalb: „Ich sehe Ihren Standpunkt und kann nun verstehen, warum Sie den Tod eines anderen Vampirs fordern. Bitte verzeihen Sie mein Einlenken."

Das Verhalten des Doktors beeindruckte Zaida sehr. Der Mann war aufrichtig und besaß ein gutes Herz. Dies waren sehr lobenswerte Charakterzüge, die sie auch bei der Wahl ihrer Nachkommen berücksichtigt hatte. Ihrer Meinung nach wäre Edmond durchaus ein geeigneter Kandidat, um ein Centra zu werden, von denen es viel zu wenige auf der Welt gab. Durch sein Verhalten gewann er ihren Respekt, weshalb sie dementsprechend auf ihn reagierte und freundlich erwiderte: „Ich kann auch Ihren Standpunkt sehen und bin froh, dass es Menschen wie Sie gibt, die sich Gedanken um das Leben eines Vampirs machen. Fortan stehen Sie unter dem Schutz der Antares. Seien Sie der meine."

Edmond war darüber sehr überrascht und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Joshua bemerkte seine Unwissenheit, trat rasch an ihn heran und sprach leise: „Dies ist eine große Ehre. Falls Sie den angebotenen Schutz annehmen wollen, antworten Sie mit: Ich bin der Ihre."

„Ich bin der Ihre", wiederholte Edmond Joshuas Worte, worauf die Clanführerin ihnen amüsiert und zufrieden entgegen lächelte. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich und schritt davon. Gefolgt von Mateo und ihren beiden weiteren Nachkommen.

 

*****

 

Lange dachte Noel darüber nach, was er tun sollte. Es war die schwerste Entscheidung seines gesamten Daseins. Alle seine Instinkte rebellierten gegen den Gedanken, seinen eigenen Sirus zu töten. Die Natur hatte ihn so geschaffen, dass er sofort sein eigenes Leben geben würde, um seinen Sirus zu schützen. Jedem Vampir wurde dies mit in die Wiege gelegt. Und genau gegen diesen Instinkt sollte er nun ankämpfen und seinen eigenen Erzeuger vernichten.

Verzweifelt suchte er nach einer anderen Lösung, doch so sehr er auch darüber nachdachte, er sah keinen anderen Weg. Nicht einmal die Anwesenheit seines treuen Loraibs, der ihm stumm Gesellschaft leistete, damit er in Ruhe nachdenken konnte, tröstete ihn. Egal was er auch tun würde, solange Altair am Leben wäre, würde entweder er, seine Nachkommen oder sogar der gesamte Clan unter dessen Herrschaft leiden.

Der Teil von ihm, der seinem Sirus noch immer treu ergeben war, flüsterte ihm zu, dass es Altairs Recht als oberster Sirus war, zu tun, was immer ihm beliebte. Selbst wenn dies die Vernichtung des gesamten Clans zur Folgen haben sollte. Doch der Teil, der viel von Zaidas Lehren in sich trug, beschwor ihn, der strengen Herrschaft seines Sirus’ ein Ende zu bereiten, bevor Clanmitglieder zu Schaden kommen würden.

Es war der Sirus in ihm, der am Ende die Oberhand gewann und die Entscheidung erwirkte. Ein Blick auf Joshua genügte und er war sich seiner Aufgabe bewusst. Mehr noch als seinen Erzeuger liebte er seine Nachkommen und um diese zu schützen, wollte er alles tun.

Als er wenige Minuten vor Ablauf seiner Frist an Zaidas privates Gemach klopfte, bemerkte er mit Schrecken, dass seine Hand vor Unsicherheit zitterte. Zuletzt war ihm so etwas passiert, als er noch ein Mensch war.

Rasch versteckte er seine Hand hinter seinem Rücken, als sich die Türe öffnete und Zaidas Loraib, Nathaniel, nur leicht bekleidet vor ihm stand.

Nathaniel schenkte ihm einen warmen Blick und öffnete wortlos die Türe, um ihn hereinzulassen. Als Noel eintrat, konnte er gerade noch sehen, wie Zaida sich nackt von ihrem Bett erhob und in einen schwarzen Seidenmantel schlüpfte.

„Bitte verzeih, falls ich gestört habe", meinte Noel respektvoll, wandte seinen Blick jedoch nicht von der Vampirin ab, da dies einer Beleidigung gleich gekommen wäre.

Zaida mimte die Kühne, während sie in Wahrheit mit großer Spannung auf Noels Entscheidung wartete. Sie hatte versucht ihre Sorgen ein wenig mit Nathaniel zu vertreiben, doch es war nicht sehr wirkungsvoll gewesen. Sofort, nachdem Noel näher trat, versuchte sie seine Gedanken zu ergründen und stellte dabei enttäuscht fest, dass er ihr den Zugang hierzu verwehrte.

Ohne ihre Enttäuschung aus ihrer Stimme zu verbergen, sagte sie: „Wie ich sehe, hat er dir wenigstens etwas beigebracht. Ich hoffe, der Grund, weshalb du mir den Zutritt zu deinen Gedanken verwehrst, ist nicht der, dass du doch zu ihm zurückkehren willst?"

Der wahre Grund lag weniger in seiner Entscheidung, als mehr in seiner Unsicherheit, die er zu verstecken versuchte. Ihretwegen wollte er stark sein und sie nicht erkennen lassen, wie schwach er sich fühlte.

„Wie kann ich ihn besiegen?", fragte er Zaida, wobei seine Unsicherheit deutlich in der Stimme lag.

Überrascht blickte Zaida ihm entgegen. Mit einer solchen Frage hatte sie kaum noch gerechnet. Ohne Erklärungen schritt sie rasch an einen antiken Holzschrank heran, der mit kunstvollen Schnitzereien verziert war und überhaupt nicht zum Rest der Einrichtung passte, die eher modern gestaltet war. Aus diesem holte sie ein langes Schwert hervor, welches so ähnlich aussah wie ein Samuraischwert, und warf es mit einer plötzlichen Bewegung durch die Luft, direkt auf Noel zu.

Aus reiner Reaktion heraus fing er das Schwert auf und betrachtete es mit Faszination. Die Scheide war aus sehr altem Holz geschnitzt und mit filigranen Verzierungen geschmückt.

„Zieh es heraus", forderte Zaida, worauf Noel seine Hand um den Griff schloss, welcher sich erstaunlich gut in seiner Hand anfühlte, als wäre es für ihn gemacht worden. Er zog die Klinge aus der Scheide und besah sie sich genauer. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie ein solch seltsames Schwert gesehen. Die Klinge selbst war aus rasiermesserscharfen Stahl, doch seitlich war tiefschwarzes Holz eingearbeitet, das nahtlos in dem Stahl versank. In seiner Hand fühlte es sich federleicht an.

„Das Holz ist mehr als zehntausend Jahre alt. Das Schwert gehörte meinem Vater. Mit ihm wirst du Altair besiegen. Verletzt du ihn mit diesem Schwert, werden seine Wunden sehr schlecht heilen. Ein Stoß in sein Herz bedeutet seinen Tod. Die Klinge ist so scharf, dass du ihn zweiteilen könntest. Am schnellsten tötest du ihn, indem du ihm den Kopf abtrennst."

Ein kalter Schauer durchfuhr Noel bei diesem Worten. Noch immer konnte er sich nicht an den Gedanken gewöhnen, seinen Sirus zu töten.

„Ich bin nicht geübt in Schwertkampf", gab Noel widerwillig zu bedenken. Er wusste, dass Zaida es als eine Schande ansah, wenn ein Vampir nicht mit einem Schwert umgehen konnte. Oftmals hatte er Altair gebeten, ihn zu unterweisen, doch dieser hielt dies nie für notwendig und langsam begann Noel zu begreifen, warum sein Sirus ihm dieses Wissen verwehrt hatte.

„Dann wird es Zeit, dass du es lernst", meinte Zaida nur, während sie ihren seidenen Mantel zu Boden gleiten ließ und nackt vor ihren Kleiderschrank trat, um sich Kampfkleidung anzuziehen.

Während Noel ihr mit seinem Blick folgte, erweckte ein raschelndes Geräusch hinter ihm seine Aufmerksamkeit. Sofort, als er sich danach umdrehte, erkannte er die Gefahr und reagierte blitzschnell. Ohne dabei nachzudenken, blockte er den Schwerthieb von Nathaniel, welcher völlig unerwartet gekommen war.

Noch immer nicht mehr am Körper tragend, als nur einen schwarzen Slip, grinste Nathaniel ihm frech entgegen und neigte seinem Kopf zum Gruß, womit er gleichzeitig den Kampf offiziell eröffnete. Sie beide wichen einen Schritt auseinander und bereiteten sich auf den nächsten Schlag vor. Sie beobachteten einander sehr genau und umrundeten sich gegenseitig, bis Nathaniel erneut zum Schlag ausholte. Gekonnt blockte Noel erneut, doch diesmal wartete Nathaniel nicht, sondern führte sofort weitere Attacken durch. Noel hatte Mühe alle Angriffe zu blocken, doch mit jedem Zug merkte er, wie das alte Grundwissen, das Zaida ihm in seinen ersten beiden Zöglingsjahren beigebracht hatte, wieder zurückkehrte.

Eilig schlüpfte Zaida währenddessen in ihre Kleidung, um ein wachsames Auge auf den Kampf richten zu können. Die Waffe, die Noel führte, war selbst in der Hand eines ungeübten Kämpfers eine tödliche Gefahr für ihren Loraib, weshalb sie die beiden Vampire genau beobachtete.

Im Laufe vieler weiterer Angriffe, wurde Noel immer sicherer im Umgang mit dem Schwert. Es erstaunte ihn sehr, wie leicht sich diese Waffe führen ließ. Dennoch behielt Nathaniel weiter die Oberhand, was nur deutlich erkennen ließ, wie viel mehr Übung dieser im Schwertkampf besaß. Auch die Angst, seinen Gegner aus Versehen schwer zu verletzen, hielt Noel zurück, da er sich der Gefahr, welche von dieser mächtigen Waffe ausging, sehr wohl bewusst war. Der Schlagabtausch zwischen den beiden Vampiren wurde jedoch immer schneller, sodass Noel nicht mehr die Zeit dazu blieb, über sein Handeln nachzudenken und sich mit seinen Angriffen zurückzuhalten. Nathaniel drängte ihn immer weiter gegen die Wand zurück und schenkte ihm keinen Augenblick Ruhe, sodass Noel schließlich aus reiner Reaktion heraus konterte und zu einem tödlichen Schlag ausholte.

Erst als Noels Klinge von einem harten Gegenstand gestoppt wurde, erkannte er, dass sein Schwert nur wenige Zentimeter vor Nathaniels Nacken aufgehalten worden war. Zaida hatte gerade noch rechtzeitig reagieren und den Schlag mit der Scheide ihres Schwertes stoppen können, bevor Noel ihrem Liebsten den Kopf abgeschlagen hätte.

Nathaniel blickte auf den funkelnden Stahl, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, doch sein Blick war nicht mit Furcht erfüllt, sondern mit aufrichtigem Respekt für Noel, was er seinem Kampfpartner auch offen zeigte, indem er seinen Kopf respektvoll vor Noel verneigte.

„Sehr gut", lobte Zaida und fügte hinzu: „Jetzt mit mir."

In Noel steckte noch immer der Schrecken, dass er Nathaniel beinahe getötet hätte, als dieser sich von ihnen entfernte und er nun einem weiblichen Gegner gegenüber stand.

Zaida war um einiges älter als Altair, und somit auch um einiges stärker und mächtiger. Gegen sie standzuhalten, würde ungefähr so schwer sein, wie seinen Sirus zu besiegen. Es war die beste Übung, die er bekommen konnte.

Erst bei Einbruch des Tages beendete Zaida das Training. Noel war völlig erschöpft, während der Vampirin hingegen kaum anzusehen war, dass sie die ganze Nacht über gekämpft hatten. Sie hatte ihm einige wertvolle Kampfzüge gezeigt und ihm nicht eher eine Pause gegönnt, bevor er sie alle perfekt beherrschte.

„Ruh dich nun ein wenig aus. Wenn du wieder frisch und erholt bist, machen wir weiter", informierte sie ihn, während sie ihr Schwert zurück in den Schrank legte. Noel reichte ihr die wertvolle Waffe dar, damit sie diese ebenfalls zurückzulegen könnte, doch sie lehnte ab: „Nein, behalte es. Ich will es erst zurückhaben, wenn Altair tot ist."

Mit einer leichten Verbeugung sagte Noel: „Ich bin der deine", und betonte damit seinen Respekt und seinen Dank ihr gegenüber.

„So sei es", erwiderte sie voller Stolz. Noel war immer so etwas wie ein Sohn für sie gewesen und es erfüllte sie mit Stolz und Freude, dass er sich trotz seines Sirus’ zu so einem prächtigen und würdevollen Vampir entwickelt hatte.

Nur wenige Stunden Ruhepause später begann das Training erneut. Diesmal stand er erst Mateo gegenüber, der ihm in Alter und Kraft beinahe ebenbürtig war, da Noel nur knappe hundert Jahre jünger war. Auch gegen seinen neuen Gegner konnte Noel sich mit Hilfe der besonderen Waffe allmählich behaupten und die Oberhand gewinnen. Doch bevor es wieder zu einer so gefährlichen Situation wie bei Nathaniel kommen konnte, nahm Zaida selbst wieder die Rolle seines Gegners ein.

Den ganzen Tag lang, und nach einer weiteren kurzen Pause auch die ganze darauf folgende Nacht über, trieb sie ihn unerbittlich an und gab nicht eher Ruhe, bis sie sicher war, dass er Altair ein würdiger Gegner sein würde.

Am Morgen des folgenden Tages, war Noel mit seinen Kräften am Ende, doch Zaida war sehr zufrieden mit ihm. Nun endlich war er soweit, dass er sich seinem Sirus stellen konnte.

Sie ordnete ihm an, sich zur Ruhe zu legen und sich von Joshua verwöhnen zu lassen, denn schon am Mittag würden sie gemeinsam zu seinem Clan fahren, um seinen rechtmäßigen Platz zu beanspruchen. Während Noel ihrer Anordnung folgte, sorgte Zaida für ein paar notwendige Vorbereitungen.

 

*****

 

Es war gegen Mittag, als Edmond zusammen mit Nathaniel am Tisch saß und eine Partie Schach spielte. Im Laufe der Zeit, die er bei den Antares verbrachte, hatte er erste Freundschaften zu einzelnen Vampiren geschlossen, zu denen Nathaniel zählte. Irgendwie faszinierte Edmond die Vorstellung eines Vampirs, der nur dazu erschaffen wurde, um seinem Erschaffer sexuell zu dienen, weshalb er begierig darauf war das Wesen der Loraibs zu erforschen.

Zu seinem Leidwesen war Joshua nicht mehr besonders gut auf ihn zu sprechen, was er sich wegen seiner voreiligen Rückschlüsse wohl selbst zuzuschreiben hatte. Doch zum Glück war dies nicht der einzige Loraib, den er kennen lernen durfte.

Nathaniel faszinierte ihn ungemein, da er sich nicht vorstellen konnte, wie ein so stattlicher Mann, wie dieser, der Loraib eines weiblichen Vampirs sein konnte. Es erinnerte ihn an bizarre Szenen aus einem billigen Pornostreifen, in dem sich ein Sklave einer Domina unterwarf.

Natürlich hielt er diese Vorstellung fest in seinen Gedanken verschlossen, da er es sich nicht auch noch mit Nathaniel verscherzen wollte, wie er es bei Joshua geschafft hatte. Doch jedes Mal, wenn Zaida kurz bei ihnen war, um sich von ihrem Loraib ein paar Küsse zu stehlen, schien sie ihm etwas zuzuflüstern, worauf dieser ihm amüsierte Blicke zuwarf. Edmond kam es dabei jedes Mal so vor, als ob die beiden seine Gedanken erahnen könnten, was seinem Wissen nach natürlich unmöglich sein konnte. Und dennoch kam es ihm immer dann, wenn Zaida bei ihnen war, so vor, als ob sie ihm absichtlich etwas vorspielten, wobei Nathaniel stets deutlich demonstrierte, wie ergeben er seinem Sirus gegenüber war und wie sehr Zaida ihn dafür liebte.

Edmond konnte sich nicht helfen, aber aus einem unerfindlichen Grund faszinierte ihn diese Art der Beziehung außerordentlich und er fragte sich, wie es wohl sein würde, als Loraib zu leben.

„Nathaniel, hast du Karen gesehen?", fragte Mateo und riss Edmond damit aus seinen tiefen Gedanken, wobei ihm auffiel, dass er schon längst den nächsten Zug hätte tätigen sollen.

„Nein", antwortete Nathaniel abwesend, denn im Gegensatz zu Edmond war er voll und ganz auf das Spiel konzentriert. Es muss dabei wohl kaum erwähnt werden, wer der sichere Sieger dieses Spieles sein würde.

„Du! Mensch, hast du Karen gesehen?", fragte Mateo an Edmond gerichtet, worauf dieser ihn entsetzt ansah.

„Sein Name ist Edmond", berichtigte Nathaniel, ohne den Blick vom Schachbrett zu nehmen.

„Es ist mir egal, wie er heißt. Ich will wissen, ob er Karen gesehen hat!", erwiderte Mateo schroff.

Entschuldigend blickte Nathaniel zu Edmond auf und meinte: „Du musst sein Verhalten entschuldigen. Auf Menschen, und besonders Männer, ist er nicht sehr gut zu sprechen. Karen ist unser kleines Parley Mädchen, das dir an deinem ersten Morgen begegnet war. Hast du sie gesehen?"

„Nein, tut mir leid. Ich habe sie seit diesem Morgen nicht mehr gesehen", antwortete Edmond wahrheitsgemäß und mit ehrlichem Bedauern. Zu gern hätte er die junge Dame näher kennen gelernt, doch scheinbar hatte jemand bestimmtes etwas dagegen.

Mit einem unzufriedenen Brummen wandte sich Mateo von den beiden ab und ging davon. Zaida kam ihm entgegen und fragte ihn sogleich: „Ist alles fertig?"

„Ja, mein Sirus. Es ist alles so, wie du es wolltest. Wir können sofort aufbrechen. Es ist nur…", zögerte er, da Noel und Joshua im selben Moment auf sie beide zutraten und ihm fragend entgegenblickten.

„Es ist was?", hakte Zaida nach, ohne genauer auf Noel und Joshua zu achten. Das Zögern ihres Centra machte sie leicht nervös, weshalb sie den Grund dafür erfahren wollte.

„Karen ist verschwunden. Ich kann sie nirgendwo finden", gab Mateo nur ungern zu. Als erster Centra war es seine Pflicht über das Parley des Clans zu wachen, doch da sie kein richtiger Parley war, konnte er keine praktischen Methoden, wie zum Beispiel Eisenketten, anwenden, um Karen immer in Reichweite zu haben, also hatte er stets alle Hände voll zu tun, sie im Zaum zu halten. Denn Karen war eine sehr gewitzte junge Dame, die es ihren Zieheltern nicht gerade leicht machte, auf sie aufzupassen.

„Herrje, nicht schon wieder!", stöhnte Zaida, da es nicht das erste mal war, dass Karen spurlos verschwand. „Wir haben jetzt keine Zeit für ihr Versteckspiel. Wir brechen in einer halben Stunde auf. Früher oder später wird sie schon wieder auftauchen."

Mateo war deutlich anzusehen, wie sehr ihm diese Entscheidung missfiel. Er nickte ihr dennoch zustimmend zu, machte sich dann aber erneut auf die Suche nach Karen, da er sie vor seiner Abreise noch einmal sehen wollte. Er hasste es, nicht zu wissen, wo sein kleines Mädchen war.

„Macht euch euer Parley Schwierigkeiten? Wolltest du sie uns nicht noch vorstellen?", fragte Noel neckend nach. Obwohl er Karen bisher noch nicht kennen gelernt hatte, ahnte er sofort, dass es sich hierbei um den Parley handeln musste.

„Sie ist vorlaut und ungehorsam. Sie kann von Glück sagen, dass sie nicht wirklich unser Parley ist. Seit sie alt genug ist, um jungen Männern den Kopf zu verdrehen, muss Mateo ständig darauf aufpassen, dass sie keine Dummheiten anstellt. Wenn sie so weiter macht, bedeutet sie eines Tags noch den Untergang unseres Clans", klagte Zaida übertrieben.

Interessiert fragte Noel nach: „Weshalb habt ihr sie bei euch aufgenommen, wenn sie nicht wirklich euer Parley ist?"

Zaidas Blick wurde ernster, als sie zu erzählen begann: „Wir haben sie vor ein paar Jahren auf der Straße gefunden. Sie ist von zu Hause weggelaufen. Ihr Vater hatte sie misshandelt. Ich war zuerst dagegen, sie hier zu lassen, da ein Vampirclan eigentlich nicht der richtige Ort ist, um ein kleines Mädchen großzuziehen, doch Mateo hat sie sofort in sein Herz geschlossen und bat mich, ihr Unterschlupf zu gewähren. Also habe ich verkündet, dass sie fortan unser Parley ist und er sich um sie zu kümmern hat, nur mit der Ausnahme, dass sie nicht die Pflichten eines Parleys hat, sondern einfach nur bei uns leben darf und unseren Schutz genießt."

Der Doktor wollte zu gerne wissen, welche Art von Pflichten ein Parley hatte, doch er wagte es nicht, danach zu fragen. In seiner Fantasie malte er sich jedoch die wildesten Szenarien aus. Er nahm sich fest vor bei einer passenden Gelegenheit zu fragen, was genau ein Parley war.

Eine halbe Stunde später verließen Noel und sein Loraib in Begleitung von Zaida, Nathaniel und Mateo die Behausung des Clans über einen weiteren versteckten Eingang, welcher diesmal nicht durch einen Friedhof, sondern über eine verborgene Türe direkt in den Keller eines öffentlichen Gebäudes führte. Es war ein gut besuchtes Kaufhaus, das rund um die Uhr geöffnet war, wodurch es nicht auffiel, wenn die Vampire hier aus- und eingingen. Praktischerweise hatte das Gebäude im Keller eine Tiefgarage, wo der Clan über ein paar Fahrzeuge verfügte.

Als sie am Wagen ankamen, stellte Noel überrascht fest, dass ein Anhänger am Auto befestigt war, welcher eine große hölzerne Kiste geladen hatte. „Was ist das?", fragte er neugierig nach und deutete dabei auf die Ladung des Anhängers.

„Das ist das Versöhnungsgeschenk, das ich Altair übergeben werde", antwortete Zaida, während sie auf dem Beifahrersitz, dessen Türe ihr Nathaniel aufgehalten hatte, Platz nahm.

Nathaniel, Joshua und Noel stiegen hinten im Wagen ein, während Mateo sich ans Steuer setzte. Nachdem Noel eingestiegen war, fragte er weiter: „Und was befindet sich in der Kiste?"

„Nichts", erwiderte sie, worauf Noel verdutzt zu ihr nach vorne blickte. Mit einem feinen Lächeln wandte sie sich zu ihm um und erklärte genauer: „Noch nichts. Doch wenn Altair es öffnet, werden du und Joshua sich darin befinden. Deshalb wird es eine besonders gelungene Überraschung werden."

„Das wird niemals funktionieren. Altair wird es fühlen, sobald ich in seine Nähe komme", zweifelte Noel an dem Plan.

Zaida lachte kurz auf und meinte sarkastisch: „Hat er jemals behauptet, er könnte dich fühlen? Wenn ja, hat er dich belogen. Altair fühlt gar nichts."

„Aber ich fühle es doch auch, wenn meine Nachkommen in meiner Nähe sind."

„Natürlich tust du das. Du hast ja auch ein festes Band mit ihnen geknüpft, indem du ihnen die ersten Nächte beigestanden hast und sie von dir hast trinken lassen. Altair kann dich genauso wenig wahrnehmen, wie all die Moras, die er schaffen hat."

„Ich bin doch aber kein Mora!", erwiderte Noel brüskiert.

„Für ihn schon", erwiderte sie, während sie ihm einen viel sagenden Blick zuwarf.

Geschockt ließ sich Noel zurück in den Sitz fallen. Bisher war er immer voller Stolz erfüllt, der erste Centra des Clans zu sein, doch nun verlor diese Stellung immer mehr an Bedeutung für ihn. Moras werden nur erschaffen, um der Rangorder zu dienen. Deren Erschaffer bauen keine Verbindung zu ihnen auf und schenken ihnen in ihren ersten Tagen auch keine Zuneigung. Während ihrer beiden Zöglingsjahre werden Moras meist von anderen Moras des Clans betreut und in ihre Pflichten eingewiesen, weshalb keine emotionale Bindung zwischen ihnen und ihren Erzeugern entsteht.

Bisher hatte Noel diesen Gedanken immer verdrängt, doch nun wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er im Grunde auf dieselbe Art erschaffen worden war. Nur die Tatsache, dass er auf spezielle Weise als Centra erschaffen worden war, bewirkte seine emotionale Bindung zu seinem Sirus und bisher hatte er immer gedacht, sie würde allein durch die besondere Form der Verwandlung auf Gegenseitigkeit beruhen, doch nun erfuhr er von Zaida, dass ein Sirus diese Verbindung nur durch seine Bemutterung in den ersten Zöglingsjahren entwickelt. Also war er für Altair nicht viel mehr wert als ein Mora. Ein Mittel zum Zweck also, um einen eigenen glorreichen Clan zu besitzen. Noch nie spürte er eine solch tiefe Verachtung gegenüber seinem Sirus, wie in diesem Augenblick.

 

*****

 

Die Fahrt zum Heimatgebiet der Altair-Vampire dauerte einige Stunden, in denen Noel vergeblich versuchte ein wenig Schlaf zu finden. Es wäre wichtig gewesen, sich vor dem Kampf auszuruhen, weshalb er in Joshuas Armen zur Ruhe kommen wollte, doch er war innerlich viel zu aufgewühlt.

Als sie kurz vor ihrem Ziel schließlich zum Halten kamen, schreckte er überrascht hoch, da ihm die Fahrt viel zu kurz vorgekommen war. Er fühlte sich schrecklich erschlagen und sehnte sich nach ein wenig erholsamem Schlaf.

„Den kannst du haben, sobald unsere Mission erfolgreich abgeschlossen ist. Los steig aus, es ist Zeit, das Geschenk einzupacken", kommentierte Zaida seine Gedanken, wobei ihm erst auffiel, dass er es versäumt hatte, seine geistigen Absperrschranken für sie zu errichten.

Grummelnd streckte er sich und stieg nach Joshua aus dem Wagen. Sein Loraib nutzte ebenfalls die Gelegenheit, sich ordentlich zu strecken, da er während der ganzen Fahrt seinem Sirus als Kissen gedient hatte.

Sie alle folgten Nathaniel, der auf die Ladefläche des Anhängers stieg und dort den Seitendeckel der Kiste öffnete. Zum großen Erstaunen aller Anwesenden, war die Kiste nicht wie erwartet leer, sondern hatte bereits einen lebendigen Inhalt. Der bislang vermisste Parley saß darin und lugte nun schüchtern hervor.

Während Zaida um Beherrschung kämpfte und stöhnend die Augen verdrehte, fing Mateo sofort an zu schimpfen: „Was zum Teufel fällt dir ein, dich ausgerechnet hier zu verstecken? Ich hab dir klar und deutlich gesagt, dass du nicht mitkommen kannst!"

Ihren besten Dackelblick aufsetzend, blinzelte sie ihm unschuldig entgegen. Dieser Blick wirkte immer, weshalb Mateos Wut sofort verflogen war. Bei Zaida wirkte dieser Blick allerdings überhaupt nicht, weshalb diese streng fragte: „Ich will sofort eine Erklärung. Warum sitzt du in dieser Kiste?"

„Ich will dabei sein, wenn Noel seinen rechtmäßigen Platz einnimmt", gab Karen nur die halbe Wahrheit zu.

Zaida brauchte nicht mehr zu hören. Sie konnte den wahren Grund in Karens Gedanken erkennen.

„Was machen wir jetzt mit ihr?", fragte Nathaniel nach.

Zaidas Blick wanderte zwischen Mateo und Karen hin und her, während sie über das Problem nachdachte.

„Wir können sie nicht mitnehmen", gab Mateo zu bedenken.

„Ich will aber!", protestierte Karen sofort.

„Wie stellst du dir das vor? Wir können nicht einfach so einen Menschen mit zu Altair nehmen", erwiderte Nathaniel sogleich.

An Joshua gerichtet, fragte Zaida plötzlich: „Gibt es hier in der Gegend einen Sex-Shop?"

Überrascht von der Frage, blinzelte Joshua ein paar Mal, bevor er zur Antwort gab: „Ja. Ein paar Straßen weiter gibt es ein paar solcher Geschäfte. Zumindest gab es sie noch vor zwanzig Jahren, als ich zuletzt hier war. "

Niemanden verwunderte es, dass Joshua dies so genau wusste, schließlich zählt es als Loraib zu seinen Pflichten für ausreichend Abwechslung im Sexleben seines Sirus zu sorgen. Allerdings fragte sich jeder, wozu Zaida ausgerechnet jetzt einen Sex-Shop brauchte.

„Fein, dann gehen wir einkaufen. Mateo, du bleibst hier beim Wagen. Junge Dame, du kommst mit mir", verkündete Zaida irritierend gut gelaunt, weshalb ihr alle verdutzt nachblickten, als sie mit eiligen Schritten davonging. Als nur Karen ihr folgte, drehte sie sich nach ein paar Metern um und rief: „Worauf wartet ihr?"

Erst dann folgten ihr die anderen Vampire. Neugierig geworden, fragte Noel nach: „Wozu brauchst du jetzt einen Sex-Shop? Findest du nicht, dass jetzt der falsche Zeitpunkt ist, um Sexartikel zu kaufen?"

Mit einem feinen Lächeln antwortete sie: „Karen mitzunehmen, würde Altair nur misstrauisch werden lassen. Wenn wir sie jedoch hier lassen, wird Mateo uns keine Hilfe sein, weil er sich ununterbrochen um sie sorgen würde. Genauso wenig kann sie im Auto bleiben, weil dann das Risiko zu groß ist, dass Altair von ihr erfährt und zusätzlich bleibt auch das Problem mit Mateo, also brauchen wir eine bessere Lösung."

„Und was hast du nun vor? Willst du sie hier in einem Sex-Shop lassen?", fragte Noel verwirrt nach.

„Ich will nicht hier bleiben!", mischte sich Karen sofort wieder ein und blieb mit verschränkten Armen stehen.

Zaida ging unbekümmert weiter, sprach aber laut genug, damit Karen es hören konnte: „Du wirst nicht hier bleiben."

„Heißt das, ich darf mitkommen?", fragte Karen hocherfreut und beeilte sich, den Vampiren zu folgen.

Mittlerweile am gewünschten Zielort angekommen, blieb Zaida vor einem Sex-Shop stehen, drehte sich zu Karen um und kommentierte: „Ganz recht, du wirst uns begleiten. Altair wird gewiss nichts dagegen haben, wenn wir unser Parley-Mädchen mitnehmen, also werden wir ein richtiges Parley aus dir machen."

Nun war allen klar, weshalb Zaida einen Sex-Shop brauchte, nur Karen verstand es noch nicht so recht, weshalb sie unsicher nachfragte: „Ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, ich bin ein richtiges Parley?"

„Das meine Liebe, bist du ganz gewiss nicht", meinte sie nur, während sie den Shop betrat. Karen folgte ihr neugierig, ebenso wie die anderen Vampire. Sie alle waren gespannt darauf, wie Zaida aus Karen ein richtiges Parley machen wollte.

 

*****

 

Als Altair von Zaidas Besuch erfuhr, war er sehr überrascht. Er hätte nie geglaubt, dass sich die Vampirin dazu herablassen würde, ihm ein Versöhnungsangebot zu unterbreiten, nachdem er sich so große Mühe gegeben hatte, sie zu verärgern. Lange hatte er sich nach einem Krieg zwischen den beiden Vampirclans gesehnt. Dies wäre eine willkommene Abwechslung in der Einöde seines Lebens gewesen.

Mit gespielt geringem Interesse beobachtete er, wie der hohe Besuch vor ihn trat. Allen voran schritt Zaida mit stolz erhobenem Haupt. Gefolgt von Nathaniel und Mateo, welche die große Holzkiste trugen, in der Noel und Joshua sich versteckt hielten. Die hübsche junge Karen war gezwungen, Zaida auf Schritt und Tritt zu folgen, da sie ein Halsband um den Hals trug, an dem eine silberne Leine aus Kettengliedern befestigt war und die Zaida fest in ihrer Hand hielt. Ansonsten hatte Karen nur einen schwarzen String und ein dazu passendes Oberteil an, das ihre wohlgeformten Brüste nur knapp bedeckte. Um die Handgelenke trug sie lederne Manschetten, mit denen ihre Arme auf dem Rücken zusammengefesselt waren. Zusätzlich hatte ihr Zaida noch einen Ballknebel angelegt, um sicher zu stellen, dass sie ihren vorlauten Mund nicht zum falschen Zeitpunkt aufmachen und damit ihre Pläne zunichte machen würde.

Im Gegensatz zu Altair, welcher seine Gedanken sorgfältig vor Zaida verbarg, war es ihr möglich die Gedanken einiger der anwesenden Vampire zu erfassen und was sie dabei erfuhr, bestätigte ihr nur noch mehr, dass sie den richtigen Weg gewählt hatten. Nicht nur in den Gedanken, auch in deren Augen spiegelte sich die Angst wider, die den Clan beherrschte. Vor allem unter den Moras herrschte eine große Furcht vor ihrem Clanführer.

Noels Bruder, Jacob, war außer Altair der einzige der Rangorder, der noch anwesend war. Er versuchte den Blicken der Vampirin auszuweichen, als er ihr höflich einen Platz an der großen Tafel anbot, an deren Spitze sonst nur noch Altair saß, doch sie brauchte sein Gesicht nicht genau zu sehen, um dessen Wunden zu sehen. Wie erwartet hatte Altair die Nachricht über den Tod seines Centras nicht sehr gut aufgenommen und seine Wut am ganzen Clan ausgelassen.

„Los, raus mit der Sprache, warum beehrst du mich mit deiner Anwesenheit, Zaida von den Antares?", fragte Altair, noch bevor Zaida sich an die Tafel setzen konnte.

„Ich bin hier, um dir ein Geschenk zu überreichen, mein Bruder", spielte die Vampirin auf ihr Verwandtenverhältnis an, da sie genau wusste, dass er niemanden aus dem Clan jemals davon erzählt hatte, dass sie beide in Wahrheit Geschwister waren und Altair nur Clanführer geworden war, weil er sich nach dem Tod ihres Vaters vom Clan der Antares getrennt und einen eigenen Clan gegründet hatte.

Altair lachte freudlos auf und erwiderte trocken: „Was hast du in der Kiste versteckt?"

„Wenn ich es dir sagen würde, wäre es doch keine Überraschung mehr", antwortete sie mit einem feinen Lächeln, während sie Karens Leine an Mateo übergab, welcher sich zusammen mit Nathaniel neben sie stellte, nachdem sie die Kiste auf den Boden abgestellt hatten.

Altair tat gelangweilt und fragte weiter: „Was soll das ganze werden? Etwa ein Versöhnungsversuch? Ich dachte, du willst nie wieder etwas mit mir zu tun haben?"

„Ich habe meine Meinung geändert. Offiziell sind unsere Clans noch immer verbündet, also weshalb sollte ich nicht vorbeikommen und dir eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibringen?", tat Zaida unschuldig.

Eine Weile lang dachte er darüber nach, was seine Schwester im Schilde führen könnte, doch er konnte keine reelle Bedrohung in ihr erkennen. Sie war allein und hatte nur ihren Centra als Verstärkung dabei. Da sie sogar noch ihren Loraib und ein Parley mitgenommen hatte, glaubte er noch weniger an eine Bedrohung, da er ihr nicht zutraute, diese absichtlich in Gefahr bringen zu wollen. Seiner Meinung nach war Zaida viel zu verweichlicht, um eine gute Clanführerin zu sein, was einer der Gründe dafür gewesen war, dass er vor vielen Jahren den Antares den Rücken zugewandt und einen eigenen Clan gegründet hatte. Das und die Tatsache, dass er nicht einfach nur ein gewöhnlicher Kalkador sein wollte, nachdem er jahrelang Centradu der Antares gewesen war.

„Warum setzt du dich nicht?", bot Altair ihr schließlich an, um erstmal zu sehen, was deren Besuch noch bringen würde.

Davon wenig begeistert, meinte Zaida: „Warum öffnest du nicht zuerst dein Geschenk? Ich brenne darauf zu erfahren, wie es dir gefällt. Danach bin ich gern bereit mich zu setzen und ein Gläschen Blut mit dir zu trinken."

„Also gut", erwiderte Altair, mittlerweile auf das Geschenk neugierig geworden, und erhob sich von seinem Platz.

Während er auf die Kiste zuging, fragte Zaida beiläufig: „Wo ist eigentlich Noel? Hält dein Centra es nicht für nötig zu erscheinen, wenn ich zu Besuch komme?"

Sie hoffte darauf, dass er seine geistigen Barrikaden fallen lassen würde, wenn sie ihn auf etwas Schmerzliches ansprach. Und tatsächlich, für einen kurzen Moment vergaß er seine Gedanken vor ihr zu verbergen und es gelang ihr ihn zu lesen, während er ausweichend antwortet: „Er ist nicht hier."

Was sie in ihm lesen konnte verwunderte sie kaum, aber dennoch erschreckte es sie. Er war voller Zorn über Noels eigenmächtigen Selbstmord und es gelang ihr ein paar kurze Szenen seiner Wutausbrüche zu erhaschen. Wie bereits vermutet, hatte er sich besonders an Noels Nachkommen ausgetobt. Zaida hoffte nur, dass sie nicht zu spät gekommen waren.

Demütig überreichte Nathaniel eine Brechstange an Altair, womit dieser die Kiste aufbrechen sollte. Altair grinste ihm herablassend entgegen und ließ absichtlich eine abfällige Bemerkung über den Loraib fallen: „Das Kriechen beherrscht dein Loraib ja inzwischen perfekt. Bewundernswert, wenn man bedenkt, welchen Sirus er hat, der arme Kerl."

Nathaniel und Zaida gelang es, seinen Kommentar vollkommen zu ignorieren, da sie beide mit Spannung darauf warteten, dass Altair endlich die Kiste öffnen würde.

Altair stemmte das Brecheisen zwischen die Bretter, löste den oberen Deckel ab und warf dann die Stange achtlos zu Boden, worauf ein lautes Klirren durch den gesamten Raum hallte. Mit einem einzigen Stoß der Hand warf er den Deckel nach hinten herab, worauf die ganze Kiste wie ein Kartenhaus auseinander fiel. Altair sprang gleichzeitig einen Schritt zurück, damit der Frontdeckel zu Boden fallen konnte und erst dann erkannte er den Inhalt der Kiste.

Joshua war bereits aufgesprungen und warf den Antares jeweils ein Schwert zu, während Noel vollkommen ruhig da saß und seinen Sirus mit einem finsteren Blick begrüßte. Die edle Waffe ruhte noch in der Scheide und war an seiner Schulter angelehnt, während er den Griff locker an seinen gekreuzten Beinen in der Hand hielt; innerlich sofort bereit, einen Angriff zu kontern.

„Kalkadore! Zu mir! Wir werden angegriffen!", rief Altair sofort laut aus, als er die Gefahr erkannte. Mit tiefer Verachtung sah er auf seinen Centra herab. Nie hätte er gedacht, dass dieser zu solch einem Verrat fähig wäre.

Sogleich füllte sich der Raum mit den Kalkadoren der Altair-Vampire. Sie alle waren Kampfbereit, doch niemand griff die Antares an, als sie Noel und seinen Loraib lebend wieder sahen. Zudem stellten sich ihnen Zaida und ihre beiden Nachkommen bewaffnet in den Weg und jeder von ihnen wusste genau, dass diese ihnen im Kampf weit überlegen waren.

„Was ist? Worauf wartet ihr? Greift sie an!", befahl Altair seinen Kriegern, doch keiner von ihnen bewegte sich auf seinen Befehl hin.

Nachdem die Lage einigermaßen gesichert war, löste Mateo rasch die Fesseln von Karen, damit sie sich notfalls selbst verteidigen konnte. Sofort, als sie befreit war, nahm sie den lästigen Ballknebel ab, doch zu Zaidas Erleichterung verkniff sie es sich, einen Kommentar fallen zu lassen.

Altair erkannte, dass seine Kalkadore ihm keine Hilfe sein würden, deshalb versuchte er es auf die Art, die er am besten konnte. Er wurde verletzend: „So, mein Sohn war also zu feige, sich tatsächlich das Leben zu nehmen. Wie eine Ratte hatte er sich bei meinen Feinden verkrochen und ist nun hier, um mich, seinen eigenen Vater, anzugreifen. Wenn ich gewusst hätte, was für einen jämmerlichen Versager ich mir mit dir heranziehe, hätte ich dich niemals als meinen Sohn erwählt."

Mit aller Willenskraft sperrte Noel diese Worte aus seinem Bewusstsein und versuchte, sich allein auf sein Ziel zu konzentrieren: Seine Nachkommen und seinen Clan von diesem schrecklichen Tyrann zu befreien.

„Ah und Joshua, wie ich sehe, geht es dir wieder gut? Hat also dein nichtsnutziger Vater doch noch kapiert, dass ich all die Jahre mit dir gespielt habe? Hattest du es auch so sehr genossen, wie ich?", griff Altair nun Joshua an, da er bei Noel ganz offensichtlich keinen Erfolg hatte.

Aber auch Joshua konnte dessen verletzende Kommentare ungerührt hinnehmen. Schließlich hatte er viele Jahre Übung darin.

Von unten blickte Noel zu seinem Vater herauf und meinte ruhig: „Beweise mir wenigstens einmal, dass du ein ehrenhafter Clanführer bist. Greif zur Waffe und stell dich mir in einem fairen Kampf."

„Du willst gegen mich kämpfen?", lachte Altair ungläubig auf, was Noel jedoch nicht aus der Fassung brachte. Doch Altair machte das ruhige Verhalten seines Centras stutzig, weshalb er Jacob nach seiner Waffe schickte. Jacob blickte fragend zu seinem Bruder und erst als dieser ihm bestätigend zunickte, eilte er fort, um Altairs Schwert zu holen. Dies zeigte jedem Anwesenden, dass selbst Jacob mehr auf Noel hörte, als auf seinen eigenen Vater.

Während Altair auf sein Schwert wartete, führte er seine Beleidigungen weiter fort: „Ihr seid eine Schande für die Vampirrasse. Ihr habt euch verbündet, um mich hinterrücks zu ermorden. Kein Vampir, der etwas auf sich hält, würde dich als vollwertigen Clanführer anerkennen, Noel. Du bist wahrhaft eine Schande."

Nun erhob sich Noel langsam von seinem Platz, zog das Schwert aus der Scheide und reichte diese an Joshua. Noch immer war er voller Gewissensbisse und seine Instinkte riefen ihm zu, das Schwert niederzulegen und seinen Sirus um Verzeihung anzuflehen, doch sein Wille war stärker als seine angeborenen Instinkte. Nie wieder wollte er sich diesem Vampir unterwerfen, weshalb es nur einen Weg gab. Entweder er würde diesen Kampf gewinnen und seinen Sirus für immer besiegen, oder er würde im Kampf sterben.

Als Altair die Entschlossenheit in den Augen seines Sohnes erkannte, wurde ihm erstmals bewusst, wie ernst die Lange wirklich war. Auch erkannte er das Schwert wieder, das in Noels Hand ruhte. Es war das seines Vaters und er wusste, wie tödlich es selbst in den Händen eines Amateurs sein konnte. Respektvoll trat er deshalb einen Schritt zurück und wartete ungeduldig auf seinen Centradu.

Das Schwert seines Sirus’ fest in der Faust haltend, trat Jacob schließlich herein, doch er ging nicht zu Altair, sondern zu seinem Bruder. Im Innern seines Herzens hatte er schon so lange darauf gewartet, dass Noel sich gegen Altair stellen würde, weshalb er zögerte, Altair die Waffe zu überreichen. Er zögerte, weil er Angst um seinen Bruder hatte.

„Gib es ihm", forderte Noel ihn mit einem zuversichtlichen Kopfnicken auf.

Darauf trat Jacob an seinen Vater heran und übergab ihm sein Schwert. Altair griff sich mit der Linken die Waffe, während er mit seiner Rechten nach seinem Centradu schlug und ihn zur Seite schleuderte, so dass Jacob zu Boden fiel. Dessen respektloses Verhalten hatte ihn erzürnt. Sofort zog er seine Klinge aus der Scheide, warf diese achtlos zu Boden und hechtete auf Noel zu.

Noel hatte sich nicht von dieser Szene ablenken lassen, weshalb er Altairs Angriff sofort abblocken konnte. Sogleich entbrannte ein heftiger Schlagabtausch. Es begann ein Kampf um Leben und Tod.

Karen nutzte die Gelegenheit, dass alle anwesenden Vampire sich auf den Kampf konzentrierten, um sich unbemerkt davonzustehlen. Sie hatte sich in der Kiste versteckt, da sie Noels Centra kennen lernen wollte. Sobald Altair tot wäre, würden sich Noels Nachkommen eigene Nachkommen erschaffen. Dies bedeutete, dass Djoser sich auf die Suche nach einem Centra machen würde und genau auf diese Position hatte Karen es abgesehen. Dies war ihre Chance, ein unsterbliches Leben als ranghoher Vampir zu leben. Dies war schon immer ihr Traum, doch ehe sie bei den Antares eine solche Chance bekommen würde, wäre sie alt und hässlich. Darum hatte sie sich in die Kiste geschlichen und deshalb wollte sie Djoser kennen lernen.

Sie war zwar noch nie hier gewesen, doch es fiel ihr nicht schwer, die nobleren Gemächer der obern Rangorder zu finden. Außerdem hatte sie bereits Übung darin, sich unbemerkt durch ein Vampirlager zu schleichen. Rasch durchstreifte sie ein Zimmer nach dem anderen, bis sie in einem der Zimmer plötzlich einer Vampirin gegenüberstand, die sie argwöhnisch musterte.

„Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?", herrschte diese sie sofort an.

Mit Hochdruck arbeitete Karens Gehirn an einer passenden Ausrede, bis ihr die springende Idee kam: „Ich wollte mich hier verstecken, bitte verrate mich nicht! Ich bin das Parley der Antares. Als Noel und Altair zu kämpfen anfingen, habe ich es mit der Angst bekommen und bin hierher gelaufen."

„Noel lebt?", war das erste, was die Vampirin überrascht von sich gab.

„Ja, und er will Altair töten", schürte Karan weiter das Feuer an, das sie deutlich in der Vampirin entzündete.

„Mein Sirus", erwiderte die Vampirin voller Furcht, ehe sie wie von Sinnen aus dem Zimmer stürmte. Erst jetzt kam Karen der Gedanke, dass diese Vampirin vermutlich der Loraib von Altair war. Dies würde bedeuten, dass sie sich in dessen privatem Gemach befand und hier vielleicht auch das Objekt ihrer Begierde finden könnte.

Als sie in einem Nebenzimmer weiter nach Djoser suchte, hörte sie zuerst das Gerassel von Ketten, bevor sie im Dunkeln des Raumes eine Gestalt erkannte. Jemand war hier an einem Holzbalken angekettet. Rasch suchte sie nach dem Lichtschalter und erst dann, als sie das Licht einschaltete, konnte sie die Gestalt deutlich erkennen.

Mit ausgestreckten Armen an den Holzbalken angekettet, stand ein nackter Mann mit dem Rücken zu ihr. Dieser zuckte erschrocken zusammen, als der Raum erhellt wurde, und versuchte sich mühsam zu ihr umzudrehen. Sie erkannte sein Gesicht kaum, da es durch wilde Locken verdeckt war. Was sie jedoch sofort erkannte, war die Art des Raumes, in dem sie sich befand. Es war die reinste Folterkammer, voll gestopft mit verschiedensten grausamen Folterinstrumenten, die ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließen.

Als Peter sie erblickte, war er erleichtert, dass es nicht Altair war, und fragte mit rauer Stimme: „Wer bist du?"

„Ich bin hier, um dich zu befreien", antwortete Karen übereifrig, während sie gleichzeitig nach einer Möglichkeit suchte, ihn von den Ketten loszumachen.

Peters Sinne sagte ihm deutlich, dass die Kleine ein Mensch war, weshalb er sich sehr wunderte, wie sie hierher kam und warum sie ihn befreien wollte. In ihrem knappen Outfit sah sie aus wie ein Parley Mädchen, weshalb er weiter fragte: „Wer hat dich hierher gebracht? In wessen Befehl handelst du?"

Ein wenig gekränkt antwortete Karen voller Hochmut: „Niemand befielt mir was ich zu tun habe!"

Die Kleine amüsierte Peter, weshalb er sich immer wieder mühevoll zu ihr umwandte, wenn sie die Richtung änderte, auf ihrer Suche nach einem Befreiungsinstrument, bis er zu ihr sagte: „Wenn du die Schlüssel suchst, die hängen dort drüben neben der Tür an der Wand."

„Warum sagst du das denn nicht gleich?", stöhnte Karen betont auf, während sie eilig die Schlüssel holte.

Sie Ketten waren für sie unerreichbar, weshalb sie nach etwas suchte, worauf sie sich stellen konnte, bis sie einen niedrigen Schemel entdeckte, den sie direkt vor dem Vampir auf den Boden stellte. Damit sie an dessen Manschetten heranreichen konnte, musste Karen sich dennoch weit strecken, wodurch sie nun direkt am Körper des Vampirs angelehnt war.

Dies fand Peter sehr reizend, weshalb er ihren Duft tief in sich einzog und genüsslich bemerkte: „Hm, du riechst gut."

Ein wenig verlegen blickte Karen daraufhin zu ihm herab und blickte in seine smaragdgrünen Augen, die sich tief in ihre bohrten. Glücklich, dass ihr Plan so gut funktionierte, lächelte sie ihn an. Sie dachte, dass er Djoser war, weshalb sie ihren Charme mit allen Mitteln spielen ließ und weshalb es sie auch nicht störte, dass sie so knapp bekleidet an der Brust eines völlig nackten Mannes lehnte.

Als sie sich nach einer kurzen geistigen Abwesenheit wieder an ihr Vorhaben erinnerte, befreite sie den Vampir endlich von seinen Ketten. „Danke sehr", schnurrte Peter verführerisch, während er seine Arme um den schlanken Körper des Mädchen schlang und sie sanft von dem Schemel auf den Boden herab hob. Automatisch schlang Karen ihre Arme um seinen Nacken und lächelte ihm ebenso verführerisch entgegen.

Nachdem ihr Körpergeruch ihm keinen Anhaltspunkt gab, woher die Kleine kam, was sehr ungewöhnlich war, fragte er sie: „Du siehst aus wie ein Parley. Verrätst du mir, wer dein Schalnar ist?"

„Was ist ein Schalnar?", fragte Karen sichtlich verwirrt, weil sie dieses Wort noch nie gehört hatte.

„Du bist doch ein Parley, oder nicht?" Peters Verwirrung war ihm nun deutlich anzusehen.

„Ja", erwiderte Karen zurückhaltend, da sie sich nicht sicher war, ob dies negative Rückschlüsse auf sie ziehen ließe.

„Dann musst du auch einen Schalnar haben. Einen Vampir, der für dich sorgt", erklärte Peter genauer. Ihm war zwar noch nie ein fremdes Parley begegnet, doch sein Sirus hatte ihm davon erzählt, weshalb er sich wunderte, wie weit dieses Mädchen von Noels Erklärungen abwich.

Eigentlich war es nicht in Karens Sinn in Gegenwart ihres Wunschpartners von einem anderen Vampir zu sprechen, aber dennoch antwortete sie wahrheitsgemäß: „Damit meinst du vermutlich Mateo."

„Mateo, von den Antares?", fragte Peter sofort nach.

„Ja."

„Die Antares sind hier? Ist Zaida auch hier?", wollte Peter aufgeregt wissen.

„Ja. Zaida, Mateo und Nathaniel. Sie sind hier, zusammen mit Noel und Joshua. Dein Sirus will Altair töten", erklärte Karen genauer.

Peters Gesicht erhellte sich vor Freude und Erleichterung, als er wiederholte: „Noel ist hier?"

„Ja, das sagte ich doch gerade", erwiderte Karen.

Daraufhin drückte Peter das Mädchen von sich und suchte fieberhaft nach seiner Kleidung. Er hatte beobachten können, wohin Altair diese geräumt hatte, als er ihn hier, für eine für später versprochene Folter, an den Balken gekettet hatte. Wenn es stimmte, was das Mädchen behauptete, musste er so schnell wie möglich seinen Bruder befreien. Falls Noel scheitern sollte, konnte er wenigstens Djoser in Sicherheit bringen. Dies war er seinem Bruder schuldig, nach allem, was passiert war.

„Wo willst du hin?", fragte Karen enttäuscht, da er sich nach seiner Befreiung kaum mehr für sie interessierte.

„Ich muss meinem Bruder helfen", erklärte er ihr mit einem eindringlichen Blick, als er gerade in seine Hose schlüpfte. Seinen ausgeleierten Pullover über den Kopf ziehend, schnappte er sich gleichzeitig die Schlüssel aus Karens Hand und eilte zu einer verschlossenen Tür, die zu einem weiteren Nebenzimmer führte.

Natürlich folgte Karen ihm rasch in das Zimmer und erschrak von dem Gestank, der hier in der Luft lag. Es erinnerte sie an den Geruch des Blutes, das Mateo und die anderen Vampire immer tranken. Auch hier herrschte Dunkelheit in dem kleinen Raum. Alles was sie erkennen konnte, waren zwei etwa brusthohe Käfige, die hier an der Wand standen und damit den ganzen Raum bereits ausfüllten. Während Peter bereits eilig nach dem richtigen Schlüssel suchte, um einen der Käfige zu öffnen, suchte Karen nach dem Lichtschalter.

Bis Karen die herabhängende Schnur fand, die das Licht einschaltete, war Peter bereits im Käfig angekommen und näherte sich vorsichtig seinem Bruder, welcher sich aus Angst vor Altair in die Ecke zurückgedrängt hatte.

Karen erschrak, als sie den vollkommen nackten, Blut überströmten und geschundenen Körper des Vampirs erblickte, welcher ihnen aus angstvollen Augen entgegen sah. Erst als Djoser seinen Bruder erkannte, wich die Anspannung aus seinem Körper und er brach erleichtert zusammen. Sogleich griff Peter nach seinem Bruder und schloss ihn in eine schützende Umarmung.

„Ich hol dich hier raus", flüsterte Peter beruhigend, während Karen sich ihnen neugierig näherte und zu ihnen in den Käfig kletterte.

Djoser war zu erschöpft, um etwas zu erwidern, weshalb er nur erleichtert zu seinem Bruder aufblickte.

„Noel ist hier. Er lebt! Er ist hier, um Altair im Kampf zu fordern. Alles wird gut", redete Peter auf seinen Bruder ein, um ihm einerseits von der guten Nachricht zu berichten und andererseits, um sich selbst von Djosers schlechtem Zustand abzulenken. Er gab sich selbst die Mitschuld an all dem Leid, das sein Bruder ertragen musste, weshalb er es um jeden Preis wieder gutmachen wollte.

„Noel?", hauchte Djoser schwach, wobei ihm deutlich anzusehen war, wie ein neuer Lebenswille in ihm erwachte.

„Hier Bruder, trink von mir, damit du wieder stark wirst", forderte Peter und hielt ihm sein Handgelenk direkt vor den Mund. Dankbar nahm Djoser das Geschenk an und bohrte seine spitzen Vampirzähne in das ihm dargereichte Fleisch. Gierig sog er das kostbare Lebenselixier in sich hinein und spürte mit jedem Schluck, wie sein Körper an Stärke zurückerlangte.

„Djoser, hör auf", bat Peter eindringlich, da sein Bruder ihm zu viel Blut zu entnehmen drohte.

„Djoser?", fragte Karen nun verblüfft nach, worauf dieser ihre Gegenwart erst richtig bewusst wahrnahm. Verärgert und beschämt über ihren Irrtum, verpasste Karren Peter eine kräftige Ohrfeige. „Au! Wofür war das denn?", beschwerte sich Peter verdutzt.

Karen ignorierte Peter total. Stattdessen wollte sie sich führsorglich zu Djoser wenden, doch dieser wich sofort zurück und ließ nicht zu, dass sie ihn berühren konnte. Sein innerer Stolz war bereits durch Altair gebrochen worden und ihre bloße Anwesenheit beschämte ihn nur noch mehr. In seinem erbärmlichen Zustand wollte er von keiner fremden Person betrachtet werden, weshalb er sein Gesicht von ihr abwandte und seinen geschundenen Körper vor ihr zu verstecken versuchte.

Peter erkannte Djosers Unbehagen, weshalb er ihn einfach packte und kurzerhand aus dem Käfig trug.

„Hey! Wartet auf mich!", protestierte Karen und folgte Peters raschen Schritten.

„Wer ist sie?", fragte Djoser mit noch immer geschwächter Stimme.

„Sie ist Parley der Antares. Sie hat mich befreit. Ein komisches Ding, wenn du mich fragst", erwiderte Peter, während er Djoser rasch durch die Folterkammer in Altairs Zimmer trug.

„Wo ist Noel?", wollte Djoser wissen, worauf Peter sich zu Karen umblickte und die Frage damit weitergab.

„Er ist in dieser Richtung in einem Saal", deutete Karen ihnen, wo der Kampf stattfand.

„Bring mich zu ihm, bitte", sagte Djoser zu seinem Bruder und sah ihn mit flehenden Augen dabei an.

Peter hatte eigentlich vor, den Clan zu verlassen und erst dann zurückzukehren, wenn er sicher wusste, dass Altair tot war, doch dem Bitten seines Bruders hielt er nicht stand. Er konnte sehr gut verstehen, dass Djoser mit eigenen Augen sehen wollte, dass Noel lebte. Schließlich hatte Peter nie die Gelegenheit, seinem Bruder von den Geschehnissen der einen Nacht in der Arztpraxis zu berichten.

„In Ordnung. Ich bring dich zu ihm, aber erst ziehen wir dir etwas über", meinte Peter mit einem neckenden Augenzwinkern. Behutsam setzte er Djoser auf Altairs Bett ab, kramte in dem üppigen Kleiderschrank rasch nach einer Decke und legte sie seinem Bruder über die Schultern, bevor er ihn erneut, samt Decke, hochhob und zum großen Saal brachte.

Als sie im Saal ankamen, wichen die Kalkadore bestürzt zur Seite. Niemand von ihnen hatte mitbekommen, wie sehr ihr Clanführer Djoser zugerichtet hatte. Auch Zaida und die anderen Antares Vampire waren betroffen als sie Djoser sahen und ihnen ein unmissverständlicher Geruch von Blut und Sperma entgegenströmte.

Das Kampfgeschehen hatte sich nach langem Hin und Her zu Altairs Gunsten gewendet. Dessen Schwert dicht an Noels Kehle haltend, war Noel an die Wand zurückgedrängt. Er konnte die tödliche Klinge nur noch mit knapper Not mit seinem Schwert aufhalten, da seine Kräfte merklich nachließen.

Doch als er hinter seinem Sirus seine beiden Nachkommen erblickte und er dabei den schrecklichen Zustand seines Centras erfasste, durchfuhr ihn eine neu erwachte Willenskraft, die stark genug war, um Altair von sich zu stoßen.

Dieser war überrascht über dessen plötzliches Manöver und blickte sich kurz um, da er den Grund für Noels plötzliche Kraft sehen wollte. Als er dann Peter und Djoser stehen sah, war er erzürnt, wer es gewagt hatte, die beiden ohne seine Erlaubnis zu befreien. Dieser kurze Augenblick ermöglichte es Noel, zu einem tödlichen Schlag auszuholen, so dass das nächste und letzte, was Altair bemerkte, eine scharfe Klinge war, die sich ohne merklichen Widerstand durch sein Genick schnitt.

Geschockt wollte Altair sich zu seinem Centra umblicken und genau durch diese Bewegung trennte sich sein Kopf von seinem Rumpf und fiel zu Boden, woraufhin auch sein Körper leblos zu Boden krachte.

Erschöpft fiel Noel auf seine Knie und starrte auf die Leiche seines Sirus’ herab. Altairs Loraib eilte zum Leichnam ihres Sirus. Ihr Schmerz saß tief, aber dennoch verlor sie keine Träne für ihn, sondern starrte nur benommen auf ihn herab. Im ganzen Saal herrschte völlige Stille. Niemand wagte es, etwas zu sagen.

Nur Karen konnte ihr Mundwerk nicht halten und fragte gefühllos: „Müsste er sich jetzt nicht in Staub auflösen?"

Ohne es zu wollen, hatte Karen damit das unsichtbare Eis gebrochen. Eine Welle der Erleichterung fuhr durch den gesamten Saal. Jacob war der erste, der zu Noel eilte, ihm vom Boden aufhalf und in eine glückliche Umarmung schloss. Gleich darauf folgten alle anderen Altair-Vampire seinem Beispiel. Sie alle waren glücklich, dass Altairs grausame Herrschaft ein Ende hatte und Noel nun ihr Clanführer war.

Peter wartete noch einen Moment, bis der größte Ansturm vorbei war. Als er an Karen vorbeiging, meinte er neckend zu ihr: „Das hier ist keine Teenager-Fernsehserie. Vampire lösen sich nicht in Staub auf, wenn man sie tötet."

Nachdem Karen sicherstellte, dass Djoser nicht auf sie achtete, streckte sie Peter frech ihre Zunge heraus und verschränkte die Arme vor der Brust, um ihm zu zeigen, wie wenig sie von ihm und seiner wichtigtuerischen Bemerkung hielt.

Von ihrer Geste unbeeindruckt, schenkte er ihr ein freches Augenzwinkern, bevor er weiter zu seinem Sirus ging. Die anderen Vampire machten ihnen sofort Platz, damit er mit Djoser zu Noel gelangen konnte.

Verständlicherweise kümmerte sich Noel sofort um Djoser, als er diesen in Peters Armen vor sich stehen sah und fuhr ihm mit der Hand behutsam über den Kopf. Noel war geschockt, wie schlimm sein Centra aussah. Dessen hübsches Antlitz war übersäht mit blauen Flecken und offenen Platzwunden. Djoser war zwar glücklich, seinen Sirus lebend zu sehen, doch gleichzeitig ertrug er es kaum, in so erbärmlichen Zustand von seinem Sirus und von all den anderen Vampiren gesehen zu werden, weshalb er seine Augen vor Schmach schloss und sich nur auf Noels Berührung konzentrierte. Noel war unfähig etwas zu sagen und er kämpfte gegen die Tränen, die sich bei diesem Anblick nach vorne drängen wollten. Er konnte deutlich fühlen, wie sehr sein stolzer Centra innerlich gebrochen war, was ihn mit Schmerz erfüllte.

Um nicht vor seinem Clan zu weinen, wandte er sich rasch an seinen Centradu, griff in dessen Nacken und zog ihn zu sich heran. Stirn an Stirn sagte er leise zu ihm: „Bring ihn in mein Zimmer und wartet dort auf mich. Ich komme sofort nach."

„Ja mein Sirus", erwiderte Peter in ungewohnter Weise, da er sonst nicht so förmlich sprach, und folgte Noels Bitte.

Sorgenvoll blickte er seinen beiden Söhnen nach. Dabei fiel sein Blick auch auf Joshua, der Noel mit einer stummen Geste andeutete, dass er seinen Brüdern folgen würde und worauf Noel ihm aus der Ferne zustimmend zunickte.

Als Zaida zusammen mit ihren beiden Nachkommen vor Noel trat, erschrak er, als plötzlich die drei Antares Vampire vor ihm mit einem Knie auf den Boden niederknieten und ihn damit als Clanführer ehrten. Dem Beispiel folgend, knieten daraufhin auch alle anwesenden Altair Vampire nieder, um sich vor ihren neuen Clanführer zu verneigen.

„Bitte erhebt euch", bat Noel, da er sich selbst nicht als etwas Besseres sah.

Stolz und Erleichterung lagen in Zaidas Gesicht, als sie sich wieder erhob und direkt vor ihn trat. Sie war erleichtert, dass Noel gewonnen hatte und stolz, dass er nun der neue Clanführer war und wie erwartet von seinen Clanmitgliedern akzeptiert wurde.

„Nun bin ich es, die bei dir um Aufenthalt für sich und ihre Nachkommen bittet. Es wäre mir eine Ehre, dich weiter zu unterweisen und dir damit all die Dinge zu lehren, die Altair dir verwehrt hatte", meinte Zaida freundlich.

„Ich fühle mich geehrt, dass du mir dieses Wissen schenken möchtest. Für dich und deine Leute soll hier für immer eine offene Tür sein. Fühlt euch wie zu Hause. Ihr könnt die Zimmer meiner Söhne haben. Sei die meine", erwiderte Noel würdevoll, wie ein wahrer Clanführer.

„Ich bin die deine, wie du der meine", erwiderte Zaida förmlich und erneuerte damit das alte Bündnis zwischen ihren beiden Clans.

Daraufhin erhoben sich auch die anderen Vampire wieder und alle wirkten glücklich und erleichtert über die frohe Wendung.

Noel wollte nicht unhöflich sein, doch er sorgte sich sehr um seinen Centra, weshalb er entschuldigend zu Zaida sagte: „Bitte verzeih mir, ich weiß, dass es nicht höflich ist, seine Gäste allein zu lassen, doch mein Centra braucht mich jetzt. Ich würde gern zu ihm gehen."

„Gewiss, mein Freund. Geh und pflege ihn gut", sagte Zaida verständnisvoll.

Gerade als Noel nach Djoser sehen wollte, spürte er eine Berührung an seinem Bein und als er an sich herab sah, erkannte er die Hand von Altairs Loraib. Sie war auf dem Boden zu ihm gekrochen und nun erwartete sie seine Entscheidung, was mit ihr geschehen solle.

Ihr Leben lag nun allein in seinen Händen. Auf seinen Befehl hin, würde man sie töten, sie als Mora im Clan belassen oder ihr weiter einen Platz in der Rangorder gewähren. Er hatte zu entscheiden, was nun aus ihr werden würde, weshalb er nachdenklich zu ihr herabsah.

Obwohl sie seine Schwester war, hatte er nie ein enges Verhältnis zu ihr, wie seine eigenen Nachkommen es untereinander hatten, was jedoch Altairs Schuld war. Dadurch aber wusste Noel nicht, was er mit der Vampirin machen sollte.

Er begab sich zu ihr mit einem Knie auf den Boden und legte ihr eine seiner Hände an die Wange. Loraibs haben nur einen einzigen Lebensinhalt, nämlich dem Sirus zu dienen und dieser war ihr genommen worden. Dementsprechend groß waren der Schmerz und die Leere, die sie verspürte. Dies spiegelte sich in ihren Augen deutlich wider, doch noch immer konnte sie ihren Sirus nicht beweinen. Die Liebe, die sie für Altair empfunden hatte, war durch ihr künstliches Band geknüpft und gefestigt gewesen, doch sein grausamer Charakter hatte sie sehr oft verletzt, weshalb ein Teil von ihr froh über seinen Tod war.

Sanft sprach Noel zu ihr: „Ich werde dich nicht töten, Svenja. Du hast unter seiner Hand ebenso gelitten, wie wir alle. Dein Platz in der Rangorder soll dir erhalten bleiben. Wähle dir einen Gefährten und werde glücklich."

Dankbar lächelte sie ihm entgegen, wobei nun doch noch eine kleine Träne über ihre Wange rollte. „Danke mein Sirus", erwiderte sie respektvoll, womit sie gleichzeitig seine ihr übergeordnete Stellung anerkannte.

Nun wollte Noel sich nicht länger aufhalten lassen und erhob sich rasch, um zu Djoser zu eilen.

Als er in seinem Zimmer ankam, sah er wie Djoser sichtlich erschöpft an der Bettkante saß und gerade einen kräftigen Schluck Blut trank, den Peter ihm gereicht hatte und welcher direkt vor ihm stand. Joshua hingegen saß hinter Djoser auf dem Bett und begann all die offenen Wunden behutsam zu reinigen.

Glücklich, seine drei Nachkommen lebendig und vereint zu sehen, trat er näher. Djoser blickte mit einem schmerzerfüllten Lächeln zu ihm auf. Er war emotional sehr angeschlagen. Zuerst hatte er erfahren, sein Sirus sei tot und dann traf ihn die volle Wucht von Altairs Zorn. Sein Lebenswille war zerbrochen. Er hatte nur noch auf den Tod gewartet und nun stand sein Sirus lebendig vor ihm.

Auf schwachen Beinen richtete Djoser sich auf, um seinen Vater zu umarmen. Sofort schloss Noel ihn in eine feste Umarmung. Er konnte nicht begreifen, warum Altair seine Wut zuerst auf seinen Centra gerichtet hatte. Er war nicht enttäuscht, dass es Djoser anstatt Peter getroffen hatte. Hätte es Peter erwischt, würde er sich nun genauso sehr um seinen Centradu kümmern. Er verstand nur Altairs Handeln nicht, weshalb er leise fragte: „Warum du?"

Djoser verstand sofort, was er damit fragen wollte und erklärte: „Es war der Zorn, den er auf dich hatte."

Noels Stirn legte sich in Falten, da er nicht begriff, was Djoser damit meinte, bis Peter erklärend meinte: „Es liegt daran, weil ihr beide euch so ähnlich seid. Er konnte dich erkennen, wenn er in Djosers Gesicht sah und deshalb ließ er all seine Wut zuerst an ihm aus." An seinen Bruder gerichtet, fügte Peter dann hinzu: „Es war meine Schuld. Ich hätte dich vorher warnen sollen, bevor ich Altair vom Tod unseres Sirus’ berichtet hatte. Ich dachte mir, dass er mir die Geschichte eher abkaufen würde, wenn er sieht, dass du genauso überrascht wärst wie er, darum wollte ich es dir später im Vertrauen sagen. Doch ich hab nicht bedacht, wie wütend er darauf reagieren würde. Es tut mir leid. Bitte verzeih mir."

„Ich hege keinen Groll gegen dich, mein Bruder", erwiderte Djoser mit aufrichtiger Zuneigung Peter gegenüber.

„Es war nicht deine Schuld. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, das steht dir nicht besonders und es hilft niemanden", meinte Noel und spielte darauf an, dass es gerade Peters sonst so herzerfrischende und freche Art war, die nun von Nöten wäre und seine Selbstvorwürfe es nur schlimmer machen würden.

Zur Überraschung der drei war es Joshua, der nun neckend einlenkte: „Ich will euch nur ungern stören, aber ich kann so unmöglich Djosers Wunden versorgen, also wäre es ganz nett, wenn ihr euch trennen würdet und Djoser sich endlich aufs Bett legen würde."

Alle drei Vampire blickten nun zu Joshua, wobei ihnen erst so richtig bewusst wurde, dass dieser nun nicht länger stumm und bewegungslos war, wie in den letzten zwanzig Jahren. Deshalb scherzte Peter: „Ob es wirklich eine so gute Idee war, Josh zu heilen? Kaum gesund fängt er an, uns herumzukommandieren. Zeig gefälligst etwas Respekt vor unserem neuen Clanführer."

„Verzeih mir, mein Sirus", reagierte Joshua seinem Sirus gegenüber gespielt unterwürfig und ebenso scherzend wie sein Bruder.

„Genug", mahnte Noel seine Nachkommen freundlich und führte Djoser mit sich aufs Bett, wo er dessen nackten Körper zu sich auf seine Brust legte, damit Joshua ihm weiter den Rücken versorgen konnte, da er dort die meisten Verletzungen hatte.

Währenddessen holte Peter noch mal frisches Blut, das er dann jedoch an Noel reichte und nicht an seinen Bruder. Denn als Peter zurückkam, saugte Djoser bereits gierig am Hals seines Sirus, was die beste Medizin war, die es für einen Vampir gab. Behutsam nahm sich Peter nun Djosers geschundene Fuß- und Handgelenke vor, die deutliche Spuren von strengen Fesselungen trugen.

Mit jedem Schluck Blut, das Djoser in sich aufnahm, spürte er, wie er neue Kraft erlangte und seine Wunden zu heilen begannen. Er genoss die sachten Berührungen seiner Brüder. An der Brust seines Sirus’ fühlte er sich wohl behütet und sicher vor Gefahren. Er fühlte sich wieder wie ein junger Zögling, der von seinem Sirus bemuttert wird. Als er sich dessen bewusst wurde, schämte er sich sehr für seinen erbärmlichen Zustand. Er war stets voller Stolz und Würde gewesen, wie es sein Vater ihm geleert hatte, doch nun hatte er dies alles verloren. Durch die schändlichen Gräueltaten, die Altair ihm angetan hatte, waren sein Stolz und seine Würde gebrochen.

Stumme Tränen schlichen sich unerlaubt aus seinen Augen, die Noel sofort bemerkte, als er den salzigen Geschmack witterte. Besorgt drückte er Djoser von seinem Hals weg, damit er dessen Gesicht sehen könnte, doch Djoser wehrte sich dagegen. Zwar ließ er von der Bisswunde ab, doch gleichzeitig entzog er seine Hand aus Peters Pflege, um sein Gesicht vor Noels Blicken zu schützen.

In der Hoffnung, dass er das richtige tat, drängte Noel nicht weiter darauf, ihn anzusehen. Stattdessen strich er Djoser zärtlich durchs Haar, während Peter und Joshua weiter die zahlreichen Wunden säuberten, damit diese besser heilen konnten. Ohne weitere Widerwehr ließ er zu, dass seine Brüder ihn überall am ganzen Körper berührten. Auch an intimen Stellen hatte Altair seine Spuren hinterlassen, weshalb auch dort behutsame Hände nach ihm fassten, was er ebenso widerstandslos geschehen ließ.

Noels Bett war groß genug, um sie alle vier zu beherbergen, weshalb sich Joshua und Peter zu ihnen legten, nachdem sie nach langer und sorgfältiger Arbeit Djosers gesamte Verletzungen gereinigt hatten. Nun mussten sie nur noch warten, bis Noels Blut seine volle Wirkung tat und sich die Wunden von selbst schließen würden. Während Peter sich vorsichtig an Djosers Rücken heranlegte, kuschelte sich Joshua dicht an seinen Sirus. So vereint wachten sie miteinander über Djosers unruhigen Schlaf.

 

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